Habe nun, Ach! Gender Studies studiert…

Selen Karas Inszenierung von Fatma Aydemirs feministischer Goethe-Adaption "Doktormutter Faust" am Schauspiel Essen stiftet Irritation und lädt zum Nachdenken ein

Autorin: Sophie-Margarete Schuster

Kann man Faust ohne Gretchen erzählen? Diese Frage macht sich die Autorin Fatma Aydemir in ihrem Stück "Doktormutter Faust" zur diskursiven und künstlerischen Herausforderung. Denn was würde passieren, wenn wir dieses "Phantasieprodukt des 18. Jahrhunderts" einfach abschaffen? In Aydemirs Text verflüssigt sich "das Gretchen", teilt sich Szene für Szene zwischen den Figuren auf, während sich die Grenzen zwischen Täter und Opfer dialektisch aufzulösen beginnen. Margarete Faust (Bettina Engelhardt) – Professorin für Gender Studies und in der Öffentlichkeit für ihre feministischen Überzeugungen als "Babykillerin" angefeindet – schließt einen Pakt mit dem Teufel. Ihre Sehnsucht: verliebt sein, verliebt in einen Augenblick, der so schön ist, dass man sich wünscht, er würde doch verweilen.

Das Lachen setzt die Regisseurin Selen Kara – ganz im Freud’schen Sinne – als eine Brücke ein, die das Publikum unerwartet dicht an den Moment des Missbrauchs heranzuführen vermag.
Doktormutter Faust (c) Birgit Hupfeld

Die Figuration ihrer Sehnsucht ist Karim. Ein schwuler Student, der kurz vor der Abschiebung steht und seine Doktorarbeit von Margarete betreuen lassen will. Dass zwischen Student und Professorin ein Machtgefälle besteht, liegt auf der Hand. Doch in den humorvollen Dialogen entsteht ein Tanz der Grauzonen. Es wird viel gelacht. Auch Mephisto (Nicolas Fethi Türksever) ist belustigt und setzt sich mit einer Schale Popcorn an die Rampe, um dem unbeholfenen Hin und Her zwischen Karim und Margarete zu folgen. Das Lachen setzt die Regisseurin und Ko-Intendantin des Schauspiel Essen Selen Kara hierbei – ganz im Freud’schen Sinne – als eine Brücke ein, die das Publikum unerwartet dicht an den Moment des Missbrauchs heranzuführen vermag: In einem Augenblick sitzt Eren Kavukoğlu noch als Karim-Phantasie am Klavier und singt – getaucht in einen Nebel aus blau-rosa Licht – eine kitschige Version des Songs "Just the two of us"; im nächsten Augenblick wird eine Grenze überschritten: Margarete Faust drängt den Studenten, sie seine Mutter zu nennen, und entkleidet sich vor ihm.

Doktormutter Faust (c) Birgit Hupfeld

Die Stellschraube zwischen diesen beiden Augenblicken bildet ein klug inszenierter Humor, in dem sich der Sprung zwischen den Grenzen ganz plötzlich zu erzählen beginnt. Deutlich wird: Macht ist ein Konstrukt mit vielen Gesichtern. Aydemirs Text und die Bilder, die Kara auf der Drehbühne des Münchner Volkstheaters in Bewegung setzt, verbinden sich zu einem Sog, der diese vielen Gesichter aus dem "Dunst und Nebel um uns aufsteigen lässt". Ein aufgeschnittener Granatapfel erleuchtet auf der Gaze: mal als aufgeschnittenes Gehirn, mal als Geburtskanal. Vielleicht auch als ein Verweis auf Persephone, Göttin der Fruchtbarkeit, die von Hades, Gott der Unterwelt, entführt wurde:
"Indessen steckte er heimlich/
Mir in den Mund einen Kern der Granate und zwang mich gewaltsam/
Trotz meines Sträubens die honigsüße Speise zu essen",

berichtet Persephone ihrer Mutter bei Homer. Es ist der antike Bericht einer Vergewaltigung, den Kara im Bild des Granatapfels verborgen aufleuchten lässt.

Mein Körper ist ein Text. Seine Oberfläche ist aus Papier, auf ihm schreiben sich alle Diskurse nieder, die mich, die meinen Körper erst hervorbringen.
aus: Doktormutter Faust

Im Vorgang der Überschreibung wird "Doktormutter Faust" zum Spiel mit der Differenz. Welche neuen Perspektiven eröffnen sich, wenn wir die Rollen-Konstellation verschieben? Die Türen, die diese Inszenierung aufmacht, führen in Korridore, die nicht leicht zu überblicken sind – und die durchaus dazu einladen, vorübergehend die Orientierung zu verlieren und Irritation zu verspüren. Eine Irritation, die nicht mit einer Antwort gesättigt wird, sondern zum Nachdenken anregt: "Mein Körper ist ein Text. Seine Oberfläche ist aus Papier, auf ihm schreiben sich alle Diskurse nieder, die mich, die meinen Körper erst hervorbringen", heißt es bei Aydemir. Und: "Er lässt sich ins Unendliche weiterschreiben, korrigieren und ergänzen."

 

Mehr zur Autorin

Sophie-Margarete Schuster (c) Richard Schneider

Sophie-Margarete Schuster geboren 2001 in Frankfurt am Main. Regie-Hospitanz an der Volksbühne Berlin (2020). Studium der Geschichts- und Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Studentische Mitarbeit in der Redaktion der geschichtswissenschaftlichen Informations- und Kommunikationsplattform "H-Soz-Kult". Ehrenamtliche Mithilfe in transnationalen Theaterprojekten der KULA Compagnie. 2023 erstmals journalistisch für "Theater der Zeit" aktiv und freiberuflich als Lektorin für den Verlag.