Tanzendes Ensemble in "Karneval" (UA)

Alte Feste, neue Bilder

Lässt sich die "fünfte Jahreszeit" anders denken? Die Regisseurin, Choreografin und Performerin Joana Tischkau nimmt in "Karneval" (UA) vom Theater Oberhausen das vertraute und zugleich befremdliche Phänomen deutscher Festkultur neu in den Blick.

Text: Theresa Schütz

Im Karneval ist alles erlaubt, so heißt es oft. Obwohl er deutschlandweit nicht nur verschiedene Namen trägt, regionale Brauchtumsunterschiede aufweist und keinesfalls im ganzen Land mit gleicher Intensität gefeiert wird, haftet ihm doch an, ein typisch "deutsches" Volksfest zu sein. Als "fünfte Jahreszeit" markiert er eine temporäre Unterbrechung des Alltags, die vor allem mit der Praxis des Verkleidens verbunden ist.

Auch die 1983 in Göttingen geborene Tänzerin, Choreografin und Performerin Joana Tischkau hat es geliebt, sich als Kind für den niedersächsischen Fasching zu verkleiden. Als sie nach dem Abitur nach Köln zog und in einer Cheerleading-Gruppe aktiv war, lernte sie auch das größte deutsche Karnevalsfest – sogar von der Bühnen-Seite – kennen. Dabei kippte die positive Konnotation kindlicher Verkleidungslust in eine gewisse Ambivalenz. Realisiert man doch nicht selten erst im Verlauf des Älterwerdens, mit welch immensem Repertoire an geschlechterstereotypisierenden, exotisierenden oder rassifizierenden Kostümen eine jede Karnevalsausgabe immer auch einhergeht.

Kulturelle Aneignung

Gerade in jüngerer Zeit mehren sich deshalb Stimmen von in Deutschland lebenden, von Alltagsrassismen betroffenen Menschen, die die Teilnehmer*innen der feiernden Dominanzgesellschaft darauf hinweisen, dass mancherlei Kostüm oder Gesichtsbemalung durchaus diskriminierendes und verletzendes Potential innewohnt. Nicht selten taucht in diesem Diskurs das Konzept der kulturellen Aneignung auf. Er hebt auf die (meist unreflektierte) Übernahme von Elementen aus einer marginalisierten Kultur ab, welche dadurch entkontextualisiert werden.

Joana Tischkau nimmt sich dieses wahrhaft komplexen und emotionsbehafteten Gefüges in ihrer Produktion "Karneval" (UA) am Theater Oberhausen an, um das vertraute und zugleich auch befremdliche Phänomen deutscher Festkultur neu in den Blick zu bekommen. Auch mit der konkreten und ambitionierten Frage verbunden, ob sich der Karneval möglicherweise politisieren und für die Zukunft (neu) denken ließe.

Joana Tischkau

Dabei ist eine besondere Form choreografischen Theaters entstanden: ein Playback-Musical. Hierfür hat die Regisseurin gemeinsam mit ihrem mehrjährigen Kollaborationspartner und Sounddesigner Frieder Blume ein fast die gesamte Spieldauer durchlaufendes Soundscape kreiert, zu dem sich das achtköpfige Ensemble in wechselnden Gruppen- und Kostümkonstellationen bewegt. Es fungiert damit einerseits als Skript für den choreografierten Bilderreigen und andererseits als zentrales Mittel der Verfremdung, genauer: des auditiven Queerings. Bis auf wenige Momente sind alle Klangreferenzen durch Auto-Tune bearbeitet und verzerrt worden. Dadurch wird das visuelle Setting in eine zombiehafte Atmosphäre getaucht, Stimmen werden von der leiblichen Performanz der Performer*innen entkoppelt, und zitierte Liedtexte erhalten etwas Groteskes und zeitlich Entrücktes.

"Karneval" (UA) © Katrin Ribbe
Wer wird als Teil der Feiergemeinschaft angesprochen, wer nicht?

Zu einer Soundcollage von Discobeat, Zirkusmusik, Schunkelmucke, Hip-Hop-Beats und dem Refrain des Karneval-Klassikers "Viva Colonia" der Hoener stimmt sich die Runde in die Festzeit ein: mit Goldglitzer befüllte Bierkrüge werden ausgeschenkt, Purzelbäume geschlagen, ein kleines Tanz-Battle performt, ebenso wie eine Polonaise. Durch ein kurzes Audio-Snippet aus dem Beginn des Titellieds von Disneys "Der König der Löwen" wird Julius Janosch Schulte in XXL-Hose und weißblonden Dreadlocks gleich zu Beginn mit der Figur des Löwenkindes Simba verknüpft.

Im Folgenden wechseln sich verzerrte O-Töne von Thomas Gottschalk, Annegret Kramp-Karrenbauer oder Tino Chrupalla mit weiterem modelliertem Liedgut "typisch deutscher" Massenfeierei ab. Dies reicht vom historischen "Trizonesien"-Lied über Ballermann-Songs bis zum Roberto-Blanco-Schlager. Unterbrochen wird dieses Mashup von einigen unverzerrten Dialogpassagen aus der deutschen Synchronfassung besagten Disney-Films.

 

Gegenstand der Politiker*innen-O-Töne ist ein tendenziell rechtspopulistischer Einsatz für den Erhalt deutscher Faschings- und Volkslied-Kultur. Dabei formiert sich auf der Drehbühne analog zum Straßenumzug ein echter "Horrorzug", der bei genauerem, eben geplaybacktem, Hinsehen und Zuhören aufzeigt, wie Karnevalsfest und "typisch deutsch"-Zuschreibungen verknüpft werden und wie mitkonstruiert wird, wer – mit den Worten Joana Tischkaus – "waschechte*r Karnevalist*in" ist und wer nicht, wer Konsument und wer Produzent ist und damit auch: wer als Teil der Feiergemeinschaft angesprochen wird und wer nicht.

Disneys "König der Löwen" als Schwarzes Empowerment?

Auf die Wahrnehmung des komplexen Soundscapes der Inszenierung trifft ein nicht minder komplexes visuelles Bühnenspektakel, das sich vor allem auch durch die Kostüme von Mascha Mihoa Bischoff auszeichnet. Wieder – wie auch bei der Auswahl der Tanzstile – gilt das Prinzip der Collage und der phantasievollen Hybridisierung: Hier wird sich nicht wie eine bestimmte Figur verkleidet, sondern ein Potpourri aus unterschiedlichsten Schnitten, Farben, Tiermustern, Kopfbedeckungen und Stoffen präsentiert, wodurch eine rassifizierende Karnevals-Verkleidungspraxis kritisiert werden kann, ohne sie ihrerseits reproduzieren zu müssen.

Formal erinnert die Idee einer neuen Bebilderung eines vertrauten Stoffs an das Visual Album "Black is King" von Beyoncé Knowles. Darin hat sie 2020 gemeinsam mit anderen Schwarzen Künstler*innen und Familienmitgliedern Disneys "The Lion King" im Sinne Schwarzen Empowerments gleichsam audio-visuell neu erzählt, indem sie die Perspektive grundlegend verschiebt.

Und dies tut Joana Tischkau – wenn auch mit einer anderen inhaltlichen Stoßrichtung – mit ihrem Team in gewisser Weise auch: Der entstandene Szenenbild(er)reigen ist mal gruselig und lähmend angesichts der zombiehaften Gebärden der mit Latex-Gesichtsmasken versehenen Gestalten, mal reißen die Tanzszenen und der treibende Beat mit, mal werden nostalgische Gefühle geweckt, und mal meint man auch eine utopische Zukunftsvision einer derart hybridisierten Kultur vor Augen zu haben, die Zuordnungsfragen ad absurdum führt und in der nicht rassifizierende, nicht-binäre, queere Verkörperungen selbstverständlich sind.

"Karneval" © Katrin Ribbe
Dezidiert konzeptioneller Zugriff aufs Theater

Die in Frankfurt lebende Theatermacherin Joana Tischkau studierte Tanz und Schauspiel in Coventry sowie Choreografie und Performance am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Dass sie ihren Bachelor in Großbritannien absolviert hat, so beschreibt sie es in einem Gespräch, hat ihren Blick für die sehr unterschiedlichen postkolonialen Realitäten beider Länder geschärft und ihre Beschäftigung mit der eigenen Schwarzen, deutschen Identität sowie den spezifischen (Ausgrenzungs-)Geschichten nicht-weißer Menschen maßgeblich beeinflusst. Tischkau zeigte ihre ersten Produktionen in der freien Szene, u.a. am Mousonturm in Frankfurt, bei der Tanzplattform München oder in den Sophiensaelen Berlin; "Karneval" ist ihre erste Produktion am Stadttheater.

Neben Frieder Blume verbindet sie auch mit der Regisseurin Anta Helena Recke eine enge Arbeitsbeziehung. Beide teilen einen dezidiert konzeptionellen Zugriff aufs Theater und kollaborieren inzwischen regelmäßig. So hat Tischkau z.B. in Reckes Produktion "Die Kränkungen der Menschheit" an den Münchner Kammerspielen mitperformt und war – ebenso wie in "1000 Serpentinen Angst" am Maxim Gorki Theater in Berlin – für die Choreografie verantwortlich. Gerade haben sie gemeinsam mit Elisabeth Hampe, Frieder Blumer und Dalia Ahmed das "Österreichische Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music" für die Wiener Festwochen adaptiert. Das deutsche Pendant hatte 2020 Premiere und zielte darauf ab, Schwarze deutsche Musikgeschichte sichtbar zu machen.

Referenzspektrum US-amerikanischer Kultur

Joana Tischkau hat eine besondere Gabe in Publikumsgesprächen, Interviews oder auf Panels Auskunft über ihre eigenen Produktionen zu geben. Dabei spürt man die Ernsthaftigkeit und Leidenschaft in der künstlerischen Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen, die sich nicht zuletzt häufig (auch) biografisch begründen. Als künstlerische Vorbilder nennt sie die Theoretikerin bell hooks ebenso wie die bildenden Künstlerinnen Coco Fusco und Adrian Piper.

Dass sich gerade auch ein multimediales Referenzspektrum US-amerikanischer Kultur wie ein roter Faden durch ihre Arbeiten zieht, hat mit ihren eigenen Sozialisationserfahrungen in den neunziger Jahren zu tun. So beschreibt sie, irgendwann realisiert zu haben, dass auch dasjenige Bild, das sie zunächst von sich selbst als Schwarzer Frau entwickelt hat, eines war, das früh von der Rezeption Schwarzer Rap-, Hip-Hop- und RnB-Kultur in den USA mitformiert wurde: sich streng genommen also auch über kreative, kulturelle Aneignungsprozesse ausbildete. Eben deshalb bezieht "Karneval" – wie die meisten ihrer Produktionen – in der Debatte um kulturelle Aneignung die Position, dass es spezifische Konstruktionen und Verkörperungspraktiken, ja, machtvolle Performances – eben von Weiß-, Schwarz- oder "Deutsch"-Sein – sind, die durch beständiges Zirkulieren und Wiederholen verfestigt werden. Und gerade diese Vorgänge aufzuzeigen und mit performativen Mitteln zu dekonstruieren, ist zentrales Element ihres künstlerischen Schaffens.

In "Colonastics" animiert Tischkau u.a. in bayrisch anmutender Tracht, sanft auf einem Gymnastikball bouncend, mit Brezel oder Bierkrug bestückt, zum Oberarmtraining against "Winkefleisch".
"Karneval" © Katrin Ribbe
Parodistische Aneignungen

Die (Re-)Produktion einer übersteigerten, weißen Männlichkeit und die Frage, wie diese mit der kulturellen Aneignung stereotyp-rassifizierender, Schwarzer Hip-Hop-Kultur verwoben ist, studierte Tischkau bereits gemeinsam mit Performer Rudi Natterer in "Being pink ain’t easy". Die Konfrontation des virtuellen Publikums mit stereotypen Formen von Weißsein-Performances am Beispiel von Techno, Rock und bayrischer Schlager-Folklore bei gleichzeitiger subversiver Aneignung des Formats angeleiteter Home-Workouts inszenierte Tischkau in den drei Teilen ihrer (pandemiebedingten) Videoarbeit "Colonastics". Hierbei animiert Tischkau u.a. in bayrisch anmutender Tracht, sanft auf einem Gymnastikball bouncend, mit Brezel oder Bierkrug bestückt, zum Oberarmtraining against "Winkefleisch". Und in ihrer Abschlussinszenierung "Playback", die 2021 unter dem Titel "The Blackest Black Show" wiederaufgenommen wurde, findet eine parodistische Aneignung der aus den neunziger Jahren bekannten TV-Sendung "Die Mini Playback Show" aus einer intersektionalen Perspektive statt.

Künstlerische Herrschafts- und Institutionskritik

Tischkaus Produktionen betreiben künstlerische Herrschafts- und Institutionskritik, ohne dabei jedoch moralisierend oder didaktisch aufzutreten. Denn trotz diskursiver Gravitas bleiben sie zugänglich. Und dies liegt an der präzisen, choreografischen Arbeit mit Körpern, mit Haltungen, Gesten, Codes, Bewegungssprachen und Inszenierungsweisen. Wobei dezidiert auch dazugehört, insbesondere weiße Publika zu konfrontieren und sie zu produktivem Missverstehen, Gefühlen der Ambivalenz durch unterwanderte Sehgewohnheiten und zu kritischer Selbstbeobachtung einzuladen. Das kann und darf dann ruhig auch mal etwas unangenehm sein und weh tun. Denn wie heißt es mit Roberto Blanco so schön: Ein bisschen Spaß muss sein!

Ansonsten zeichnet Joana Tischkaus Produktionen aus, dass die Regisseurin und Choreografin vom Tanz kommt, und zwar gerade auch von vielfältig praktizierten Urban-Styles, denen sie bereits vor ihrem Studium in Tanzschulen und Jugendzentren nachgegangen ist. Prägend war für sie in diesem Kontext die Erfahrung, dass insbesondere Hip-Hop an akademischen Tanzausbildungsorten – wenn überhaupt – nur am Rande gelehrt wird. Dass Schwarze Tanztechniken eben (immer noch) selten oder nicht Teil des kunstakademischen – zeitgenössischen, weißen – Tanzkanons sind.

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Theresa Schütz © Miriam Klingl

Theresa Schütz ist promovierte Theaterwissenschaftlerin und arbeitet aktuell als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich "Affective Societies" an der Freien Universität Berlin sowie als freie Theaterjournalistin, vornehmlich für Theater der Zeit und nachtkritik.de. Sie forscht und schreibt schwerpunktmäßig zu partizipativem und immersivem Gegenwartstheater sowie zu Festivals und Kollektiven der freien Szene. 2022 erschien ihre Monografie "Theater der Vereinnahmung. Publikumsinvolvierung im immersiven Theater".