Ein Inszenierungsfoto von Karadeniz

Einladung zum Hochzeitsbegräbnis

Inspiriert von traditionellen Tänzen aus der Türkei, bricht der* Künstler* caner teker in seiner* choreografischen Arbeit "Karadeniz" nicht einfach mit Traditionen, sondern er* dekonstruiert und entgrenzt sie, um Raum für Neues zu schaffen.

Das "Gelin Alma" ist ein Ritual, das in der Türkei wohl jede*r kennt: das feierliche Abholen der Braut vor der Hochzeit aus ihrem Elternhaus, früher noch mit dem Pferdewagen. Davul und Zurna gehören dazu, die vor dem Bauch getragene schwere Trommel und die hölzerne Flöte mit dem durchdringenden Klang. Instrumente, die eine weit zurückreichende Geschichte besitzen, in der Türkei ebenso wie in Iran, Afghanistan, auch in Ländern des Balkans. Als performativer Akt ist das „Gelin Alma“ mühelos andockfähig, tradierte Sinnstränge und gesellschaftliche Codices offenbaren sich in leichter Lesbarkeit. Vorausgesetzt natürlich, dass der Vorgang in den kulturellen Kontexten zelebriert wird, in denen er auch gewachsen ist.

Die Arbeit "Karadeniz" von caner teker beginnt mit dem "Gelin Alma". Zwei Musiker*innen, Ali Hasan und Deniz Mahir Kartal, betreten den Raum durch verschiedene Türen mit Davul und Zurna, bewegen sich aufeinander zu und lassen die Instrumente ein dezibelstarkes Erwartungsflirren beschwören. Bloß bleibt es vorerst ohne Resonanz. Hier wartet keine Braut auf die Vermählung. Trommelschlag und Flötenspiel tönen einladend – doch nach zwei Runden durch die am Boden sitzenden Versammelten verlassen Hasan und Kartal den Saal wieder.

Ein Foto aus "Karadeniz"
Patchwork der Referenzen

Erst dann beginnen drei Performer*innen in der Mitte des leeren Raums – Ewa Dziarnowska, Billy Morgan und caner teker – mit ihrem ganz eigenen Zeremoniell: einem Ankleideritual. Mit gemessenen Bewegungen entledigen sie sich ihrer Shirts, streifen (im Falle von Morgan) bis zum Ellenbogen reichende Handschuhe über, legen ein weißes Unterkleid an (das "analık", das nach altem Brauch von der Brautmutter genäht und unter der festlichen Hochzeitsgarderobe getragen wird), schnüren schwarze Stiefel. Ein Patchwork der Referenzen. Der Beginn eines Aneignungsprozesses.

In konzentrierter Ruhe schlagen die drei sich auf Brust und Schenkel, erst sitzend, bald ihre abgelegten Kleider auf dem Boden umrundend, wobei die Kreise sich immer mehr weiten. Die Choreographie wird zur Raumforderung. Die Performer*innen suchen Gemeinschaft, wenngleich noch auf Distanz. Um eine Neuverhandlung des Rituals geht es. Um einen Prozess der Transformation, der sich auch musikalisch vollzieht. In atmosphärisch dräuende elektronische Soundscapes fallen wiederum Davul und Zurna ein, die jedoch von den zunehmend in Crescendi gepitchten Klangwogen verschluckt werden. Die Gegenwart nimmt sich ihr Recht.

"Die Institution der Ehe muss sterben"

Der* Künstler* caner teker bricht in "Karadeniz" nicht einfach mit Traditionen, er* dekonstruiert und entgrenzt sie, um Raum für Neues zu schaffen. Inspiriert ist die Arbeit von Halay und Zeybek – althergebrachten Tänzen aus der Türkei. "Sie sind demokratisch", beschreibt teker, "auf Hochzeiten kann sie jeder tanzen, da sie einfache Schrittfolgen haben. Ihr Ursprung liegt weit zurück im asiatischen Raum und in schamanistischen Praktiken, die geblieben sind, als der Islam als prägende Religion blieb." Bloß werden diese Bezüge bei ihm* eben nicht in den Dienst der Feier eines gesellschaftlichen Rollenmodells gestellt, das Ausschlüsse produziert. Im Gegenteil. "Die Hochzeit ist tot", lautet sein* unmissverständlicher Befund

Wir durchleben sie als Praxis einer heteropatriarchalen Gesellschaft, die durchtränkt ist mit Religion und nuclear family vibes. Welche queere Person hat da Lust drauf?
caner teker
caner teker

"Wir durchleben sie als Praxis einer heteropatriarchalen Gesellschaft, die durchtränkt ist mit Religion und nuclear family vibes. Welche queere Person hat da Lust drauf?". Es sei denn, schränkt er* ein, es ginge um bürokratische Erleichterungen à la Pass oder Steuervorteile. Dziarnowska, Morgan und teker treten zu dritt an, um die Imperative der Repräsentation hinter sich zu lassen und ein Begräbnis auszurichten: "Die Institution der Ehe muss sterben".

Schon in seiner* vorangegangen Arbeit "Kırkpınar" – die ebenfalls zum Festival "Radikal jung" eingeladen war – hat caner teker sich mit der Rolle von Ritualen auseinandergesetzt, die an Fragen von Gender, Identität und Zuschreibungen rührten. In dem Stück ging es um den hypermaskulinen Nationalsport Yaglı Güreş, eine nicht nur in der Türkei gepflegte Tradition des Öl-Wrestlings. All die Gewaltpotenziale, die dem Kampf eingeschrieben sind, lösten sich bei teker und seinem Co-Performer* Aaron Ratajczyk allerdings auf in dem Versuch, Intimität und fluide Seinszustände jenseits von Zuschreibungen herzustellen. "Rituale sind Formen der Transformation, und vor allem beschreiben sie das, was Theater für mich ausmacht: Zeuginnenschaft", so caner teker: "Ohne Zeuginnen keine Performance". Über die Transformation soll eine Verbindung mit dem Publikum entstehen, andernfalls würde die Livepräsenz des theatralen Aktes für ihn keinen Sinn ergeben. "Für mich ist Theater keine Therapie, keine Heilung, kein Kink".

Performative Radikalität und persönliches Erleben

Der* 1994 in Duisburg geborene Künstler*, der zunächst an der Kunstakademie Düsseldorf studiert hat, ist vor allem geprägt durch seine choreografische Ausbildungszeit an der School for New Dance Development (SNDO) in Amsterdam. Die Zeit dort habe ihn* gelehrt, "was es heißt, Körper, Raum und Zeit zu choreographieren". Vor allem bot sie ihm* "einen Freiraum auf der Bühne, den ich so nicht kannte. Zudem ist der Diskurs dort viel progressiver. Wir hatten Lehrer*innen wie Ishamel Housten Jones, Mariama Smith …".

Entwickelt hat caner teker an der SNDO eine Bewegungssprache, die performative Radikalität mit persönlichem Erleben rückzukoppeln versteht. Was auch für „Karadeniz“ gilt, übersetzt "schwarzes Meer", "kara" für schwarz, "deniz" für Meer. "Es ist die Region um die Schwarzmeerküste der Türkei und auch darüber hinaus, die eine Zugehörigkeit der Menschen beschreibt", so teker. "Dort habe ich meine ersten Hochzeiten erlebt". Nach "Kırkpınar" wollte er weitere autobiografische Momente erkunden – wie jenen, "eigentlich nach einer Hochzeit, in den Bergen, wo wir Halt machten, aus dem Auto sprangen, Kemenҫe gespielt worden ist" – eine türkische Kastenhalslaute – "und wir die Nacht lang durchtanzten".

Die Ökonomien dieser Hochzeiten, beschreibt teker, seien mit denen einer Türkei-stämmigen Community in Deutschland nicht vergleichbar. "In Hochzeitssalons, extra für diese Anlässe gemietet, wurde versucht, ein Stückchen Geschichte und kulturelle Referenz zurückzubringen. Eine Art Heterotopia". Hier habe er* erlebt, wie der Versuch, Rituale nur wiederzubeleben, scheitern könne. "Diese Hochzeitssäle befriedigen niemals den Wunsch nach 'Heimat'".

Gemeinsame Auflösung der Geschlechter-Codierung

In "Karadeniz" vereinen sich Dziarnowska, Morgan und teker schließlich zu einem Moment der Verbundenheit, Morgen den beiden anderen zugewandt, die Hände um ihre Schultern gelegt, vor und zurück schreitend in gemeinsamer Auflösung der Geschlechter-Codierungen. Kurz darauf fällt der gesamte Raum in Schwärze – und es beginnt eine mit neuer Energie durchpulste Feier der glückenden Transformation. Der ebenfalls zur Hochzeitstradition gehörende Kuss auf die Stirn geht über in Ringkämpfe, changierend zwischen Unterwerfung und Einvernehmen. Mit rotem, besticktem Tuch in der Hand (eine weitere Braut-Insignie) tanzen die drei jetzt Formen des Halay, denen das Kulturspezifische bloß noch als Erinnerung eingeschrieben ist und die im universellen Heartbeat der Clubs aufgehen könnten. Dass teker unter anderem im Berghain arbeitet, hat allerdings keinen unmittelbaren Einfluss auf seine choreografischen Suchen. Die Berliner Nachtkultur beeinflusst ihn nur insofern, "als die Community eine wunderbar ist, die ich sehr genieße. Vor allem die queer-feministische Partyreihe 'Lecken' ist mir sehr ans Herz gewachsen".

Er* selbst hat sich in diesem post-rituellen Hochzeitsbegräbnis die Rolle des "Köҫek" zugewiesen – für teker eine faszinierende, "nostalgisch-historische Figur", queer, "bevor es das Wort überhaupt gab". Köҫeks, das waren junge, schöne, cross-dressende männliche Tänzer und Musikanten, die schon im 17. Jahrhundert zu Vergnügungszwecken in den osmanischen Palästen mit ihrer Haremskultur angestellt waren, deren Kunst sich aber durch unabhängige Tanzgruppen über das gesamte Reich ausbreitete, die auch für Hochzeiten und Beschneidungsfeiern angeworben wurden. Zumeist standen sie – gegen Bezahlung – für schwulen Sex zur Verfügung. Die erfolgreichsten unter ihnen stiegen zu veritablen Stars auf, um deren Gunst nicht selten mörderische Streitigkeiten entbrannten. Ein Grund, weshalb die goldene Epoche der Köҫeks im 19. Jahrhundert bereits wieder endete. Er* habe sich gefragt: "Wie kann ich eine Referenz zu so einer Position bilden, die ich überhaupt nicht kenne?", so teker. Die Antwort: "Durch Sexarbeit, da sie berüchtigt dafür waren". 

Karadeniz (c) Sypros Rennt
Er* selbst hat sich in diesem post-rituellen Hochzeitsbegräbnis die Rolle des "Köҫek" zugewiesen – für teker eine faszinierende, "nostalgisch-historische Figur", queer, "bevor es das Wort überhaupt gab".
Bestürmende Soundebene

Das Motiv von (Körper)Arbeit – und damit verbunden: Klasse und Klassismus –, das im Diskurs um Gender-Identitäten oftmals vernachlässigt wird, hat teker schon in "Kırkpınar" reflektiert. Überhaupt nimmt er* in "Karadeniz" einige Motive wieder auf, die das Vorgängerstück zur Weiterbeschäftigung angeboten hat. Die Ringkämpfe. Sein eigenes, sehnsüchtig-melancholisches Spiel der Tulum, einer türkischen Sackpfeife, die gegen Ende von "Karadeniz" einen Kontrapunkt zu den immer härteren, längst von Duval und Zurna emanzipierten Elektrobeats des Duos LABOUR setzt.

Mit Farahnaz Hatam und Colin Hacklander hat teker zum ersten Mal gearbeitet. Sie haben anfänglich Texte gelesen, die die Musik und die Herkünfte von Hochzeiten beschreiben, anschließend ging es mit Live-Instrumentalist*innen in die Proben. Entstanden ist dabei eine bestürmende Soundebene, die das Performative nie nur illustriert, sondern eigene Prozesse der Bewegung in Gang setzt. Umso erstaunlicher, wie kritisch caner teker zwar nicht die Kooperation mit LABOUR, aber doch insgesamt die eigene Arbeit betrachtet. Fragt man ihn*, welche Kontinuitäten er selbst zwischen "Kırkpınar" und "Karadeniz" sieht, kommt als Antwort: "Eigentlich nur Scheitern, da ich mit beiden Stücken nicht zufrieden bin." Wohl auch eine Frage der in der Kunst verfolgten Ziele. Und die sind in tekers Fall nicht eben niedrig gesteckt.

Der* Künstler* – der seine eigene GbR "parasites projekt" gegründet hat und das "Parasitische" gern auch in Gesprächen über seine* Arbeit anführt – erklärt den Begriff unter anderem damit, dass es gelte, "langfristige Veränderungen zu bewirken, sei es in den Institutionen oder in Strukturen oder in der Frage, wie wir zusammenleben. Ein Parasit geht nicht einfach weg, er muss zerstört werden". An anderer Stelle hat er* davon gesprochen, sein Versuch in der Kunst sei, sich "in das Zeitalter der Postidentitäten hinein zu transformieren". Was genau es ist, das caner teker hinter sich zu lassen versucht? "Repräsentation ist keine Inklusion. We all need to be parasites somewhen."

Mehr zum Autor

Patrick Wildermann

 

Patrick Wildermann, Jahrgang 1974, arbeitet als freier Kulturjournalist und Theaterkritiker in Berlin. Unter anderem schreibt er für den Tagesspiegel, Theater der Zeit, das Goethe-Institut und das Galore Magazin. Daneben wird er immer wieder auch in Jurys berufen, zum Beispiel für den Berliner Kultursenat, die KinderStücke der Mülheimer Theatertage oder das Kinder- und Jugendfestival "Augenblick mal".