Ein Inszenierungsfoto von GRM Brainfuck

Gern hätte ich auch eine Katze

Armut, Gewalt und Totalüberwachung in der britischen Provinz: Der Regisseur Dennis Duszczak bringt Sibylle Bergs Post-Brexit-Dystopie "GRM" auf die Bühne und entdeckt viele Parallelen zwischen den Jugendlichen im Roman und der eigenen Generation Z.

Text: C. Bernd Sucher

Erst einmal eine Begriffserklärung: GRM steht für Grime, und das heißt, übersetzt ins Deutsche, "Schmutz". GRM bezeichnet einen Musikstil, der seine Wurzeln in Großbritannien hat, in der elektronischen Musik. Entstanden ist Grime zwischen 2002 und 2004 im Londoner Eastend. Diese Musikrichtung ist gekennzeichnet durch ihren rohen, aggressiven, manchmal auch düsteren Sound.

Grime war die wütende Drecksmusik für Kinder, die ein Drecksleben führten. Sibylle Bergs Roman, 2019 erschienen, ist eine erschreckende, auch vulgäre Dystopie und spielt in einem neoliberalen Großbritannien, nach dem Brexit. Hier herrscht Armut und Gewalt; die Menschen werden drangsaliert durch eine Totalüberwachung. Erzählt wird die Geschichte von vier Jugendlichen im Schmutz. Sie heißen Don, Peter, Hannah und Karen. Sie leben in Rochdale, einer Stadt, die es wirklich gibt, aber, so erklärt die Autorin, "Rochdale ist nicht mehr als ein Stellvertreterplatz für Millionen ähnliche Orte weltweit. Fern von Touristenattraktionen, fern von Glanz und Schönheit. Ein ehrlicher Ort, in dem Menschen leben, die sich nicht mit Konsum von ihrer Existenz ablenken können."

Dennis Duszczak
Totalüberwachung fürs Grundeinkommen

Die Vier, die nichts anderes kennengelernt haben als die Realität dieses gescheiterten Staates, ernähren sich von dem Essen privater Hilfswerke, ihre Eltern haben die Kinder schon längst aufgegeben und die Kinder ihre Eltern verlassen. Von Rochdale brechen sie auf nach London. Hier, so scheint es, wurden die Versprechen der Zukunft bereits eingelöst. Jeder, der sich einen Registrierungschip einpflanzen lässt, erhält ein wunderbares Grundeinkommen. Muss dafür aber in Kauf nehmen, perfekt überwacht zu werden. Die Reichen leben verbarrikadiert in ihren Villen; auf der Straße lebt der asoziale, vogelfreie Abschaum. Die vier Kinder, die schon lange keine Kinder mehr sind, versuchen, außerhalb des Systems zu überleben. Sie starten ihre eigene Art der Revolution.

Sibylle Bergs Text ist sarkastisch, polemisch und aggressiv. Und er ist, auch dies, zynisch. Aus dem über 600-seitigen Roman erstellte die Autorin, die zuvor schon Texte für die Bühne geliefert hatte, eine 46-seitige Bühnenfassung. Natürlich brachte der Verluste. Aber es bleibt genug, und es bleibt das zentrale Thema: Die Revolution von halbwüchsigen Outcasts gegen ein korrumpiertes, krankes Gesellschaftssystem.

Das könnten auch wir sein!

Im geposteten Werbetext zum Stück hatte Regisseur Dennis Duszczak, selbst zur Generation Z gehörend, seine Solidarität mit den von der Mehrheits- und Klassengesellschaft Marginalisierten ausgedrückt. "Das könnten auch wir sein", schrieb er. "Und selbst das noch immer affluente (und in Dortmund noch buntere) Theaterpublikum weiß ja neuerdings um die Abgründe, die sich in der aktuellen Energie- und Weltenkrise unversehens auftun können. Immerhin, noch ist der große Theatersaal gut geheizt. Und wäre er es nicht, so hätte es die zweistündige Show allemal besorgt: So viel versammelte Power auf der Bühne – WTF!" Die Abkürzung WTF ist ein Akronym, also steht jeder Buchstabe für ein eigenes Wort. Sie stammt aus dem Englischen und steht für "What the f*ck?". In der deutschen Übersetzung bedeutet es in etwa "Was zum Teufel?" oder "Was zur Hölle?"

Irgendwie krass

In dieser Inszenierung stimmt einfach alles. Schon die Dortmunder Bühnenfassung ist überraschend richtig und überraschend zugespitzt, irgendwie krass. Was hat Dennis Duszczak verändert? "Sibylle Bergs Dramatisierung wurde mir von der ehemaligen Chefdramaturgin des Schauspiels Dortmund, Sabine Reich, vorgeschlagen, während ich mit Hannah Saar auf der Suche nach einem Stoff war. Bei mir ist vor allem der Funke bei dem Musikstil Grime und der Bedeutung der Musik für die Geschichte übergesprungen, weil sich in dieser eine große Energie befindet, welche sich wunderbar auf die Bühne übertragen lässt. Sowohl der Roman als auch die Hamburger Theaterfassung, in der ja Songtexte hinzugefügt wurden, sind jeweils für sich schon viel Material. Die Hamburger Theaterfassung geht weg vom Figürlichen und zeichnet ein Bild eines Systems, in dem Ungerechtigkeit und Überwachung herrschen. Das wollten wir übernehmen, gleichzeitig wollten wir die Geschichte von Don, Peter, Hannah und Karen mehr in den Fokus rücken, welche im Roman als Leitfaden der Erzählung zu finden ist. Es war uns wichtig, den Weg der Selbstermächtigung der Jugendlichen zu zeigen. Das war kein leichtes Vorhaben; und wir mussten die Balance finden, eine Geschichte zu erzählen und gleichzeitig nicht zu figürlich und klischeehaft zu werden. Während des Prozesses bis hin zur Generalprobe haben wir neue Textteile aus dem Roman ausprobiert, welche vom Ensemble und Team während des Prozesses im Roman noch entdeckt wurden."

GRM. Brainfuck © Birgit Hupfeld
Bezahlen mit dem Chip im Handgelenk

Wie wichtig war dabei der Ort Dortmund? – "Dortmund und das Ruhrgebiet sind mir sehr vertraut, vor allem, weil ich hier aufgewachsen bin. Diesen Zustand, welcher in Rochdale beschrieben wird, konnte ich auch hier beobachten. Vor allem bei jungen Menschen, welchen von Anfang an viele Steine in den Weg gelegt werden und die versuchen, durch ihre Vorbilder aus diesem Milieu zu entfliehen. Musik ist da die eine Möglichkeit. Theater vielleicht eine andere. Für mich gab es viele Übereinstimmungen. Ich denke, sie sind es, die mich bewogen, diesen Stoff jetzt und hier auf die Bühne zu bringen. Es gibt in Dortmund übrigens auch ein Restaurant, in welchem man mit einem Chip im Handgelenk bezahlen kann."

GRM. Brainfuck © Birgit Hupfeld
König Charles als Burger King

Und es geschieht: der Zuschauer hört Rochdale und sieht Dortmund. Bühnenbildner Thilo Ulrich übersetzt das triste englische Rochdale-Grau ins Dortmunder Ruhrpott-Grau – über allem thront das Dortmunder U. Aus dem Bühnenboden wächst das Holyrood-House, ein Kasten, der auch als Projektionsfläche für Videos taugt. "In einem frühen Austausch mit dem Bühnenbildner Thilo Ullrich wusste Ich, dass wir eine wandelbare Bühne brauchen, welche nicht zu konkret ist, aber viele Spielorte anbietet", erklärt Dennis Duszczak. Bis die Dortmunder Fassung fertig erarbeitet war, änderte sich während der Arbeit einiges: "Requisiten und Möbel wurden konkreter, um die Szenen zu stützen. Dadurch, dass uns Rochdale und Dortmund in ihrer Funktion als ehemalige Industriestädte inspirierten, wählten wir eine triste, raue Industrieästhetik." In der London-Szene – die Theatermacher*innen mögen Spaß und haben ihn – sehen wir plötzlich King Charles. Statt Edwards Krone trägt er einen Papp-Reif von Burger King!

Gemeinsam in die Theaterzukunft

Die Schauspieler*innen überrumpeln die Zuschauer*innen durch ihre Direktheit, durch ein Engagement, das nicht nur körperlich zu sein scheint, sondern auch intellektuell. Mit einigen hatte Dennis Duszczak schon zuvor gearbeitet – in Dortmund! "Jedes Mal mit großer Freude und großem Vergnügen", wie er betont. "Ich hatte das Gefühl, mit den Schauspielerinnen und Schauspielern gemeinsam in die Theaterzukunft zu wachsen und freue mich schon auf weitere Arbeiten. Wenn ich mir jetzt, also lange nach der Premiere, die Vorstellungen ansehe, freue ich mich, wie sehr jede*r einzelne diese Inszenierung auch zu ihrer* und seiner gemacht hat! Jetzt bin ich sehr stolz auf uns, bei Radikal Jung eingeladen zu sein." Die sechs Darsteller*innen, grell und – ja! – geil gestylt, haben alle menschlichen Bewegungsarten drauf: Sie schreiten, laufen, rennen, sie tanzen, wippen, schreiten, preschen nach vorne oder ducken sich weg. Sie scheuen nicht Peinlichkeiten, nicht Nacktheit. Ihre Körper swingen und rocken – und erstarren in der nächsten Sekunde.

Regie bietet eine große Bandbreite von Möglichkeiten zu erzählen.
Exzentrisch, bunt und mit viel Spielfreude

Die Musiker*innen bezeichnet der Regisseur als einen "Segen für die Inszenierung". Es sei eine besondere Freude, Live-Musik auf der Bühne zu haben und diese mit Schauspiel verbinden zu können: "Mit Emilia, Malte und Christoph war es eine wunderbare Zusammenarbeit, und es hat sehr viel Spaß gemacht. Leider hatten wir nicht genug Zeit zusammen. Wie immer am Theater. Während des Studiums habe ich schon mit Lutz Spira, der die Musik komponiert hat, gearbeitet." Dennis Duszczaks coole Band besteht aus Emilia Golos, Malte Viebahn und Christoph Helm. Die Drei stehen und sitzen unter einem der beiden großen Scheinwerfer-Gerüste, die auf der Drehbühne montiert sind und um das Geschehen kreisen.

Das Dortmunder Theater bewirbt die erfolgreiche Inszenierung mit den Adjektiven "exzentrisch und bunt" und fügt hinzu: "mit viel Spielfreude". Einverstanden? Ohne Zögern antwortet Dennis Duszczak mit: "Ja!" und ergänzt: "Die Attribute, welche in einer Kritik der Inszenierung zugesprochen worden waren, scheinen den Kern der Inszenierung gut zu treffen. Wenn man das Spiel so weitertreiben würde, bin ich mir sicher, würde man noch viele weitere Attribute finden, mit denen die Inszenierung gut beschrieben werden kann. Es wäre spannend, mal zu versuchen, wie viele gefunden werden können… Vor allem Spielfreude trifft es, finde ich, ziemlich gut."

GRM. Brainfuck © Birgit Hupfeld

GRM. Brainfuck © Birgit Hupfeld

GRM. Brainfuck © Birgit Hupfeld

GRM. Brainfuck © Birgit Hupfeld

GRM. Brainfuck © Birgit Hupfeld

GRM. Brainfuck © Birgit Hupfeld

GRM. Brainfuck © Birgit Hupfeld

GRM. Brainfuck © Birgit Hupfeld

GRM. Brainfuck © Birgit Hupfeld

GRM. Brainfuck © Birgit Hupfeld

Filme drehen und eine Intendanz antreten

Dennis Duszczak ist 31 Jahre jung. Über Jugendtheaterprojekte des Düsseldorfer Schauspielhauses lernte er das Theater kennen. Im Anschluss war er drei Jahre lang Regieassistent am Schauspielhaus Bochum. Danach, 2016, begann er in Frankfurt ein Regie-Studium an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HfMDK). Und zugleich war er Gasthörer am Lee Strasberg Institut in New York. Erst drei Jahre ist er "freischaffender Regisseur" – so nennt er sich selber. In seiner Arbeit interessieren ihn Themen, "die mich gerade beschäftigen". Er denkt aber nicht nur an sogenannte Projekte, auch Inszenierungen von sogenannten Klassikern kann er sich vorstellen: "Es ist dann eben die Frage, welchen Anlass es gibt, diesen Klassiker gerade jetzt zu inszenieren. Ihn selbst in seiner Klassik zu belassen, würde mich langweilen."

Hat er Pläne? Gar einen Karriere-Plan? – "Auf jeden Fall möchte ich weiterhin als Regisseur am Theater arbeiten, soweit sich die Möglichkeiten ergeben", antwortet er eher bescheiden. "Regie bietet eine große Bandbreite von Möglichkeiten zu erzählen." Ganz so bescheiden ist er dann doch nicht: "Mit Hannah Saar und Aysima Ergün eine Intendanz antreten. Filme drehen."
Und dann kommt der sympathischste Zukunftswunsch: "Gerne hätte ich auch eine Katze."

 

Mehr zum Autor

 

C. Bernd Sucher – Autor, Theaterkritiker, Hochschullehrer. Dissertation über "Martin Luther und die Juden"; seit 1998 Professor an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Mitglied des PEN und der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Jury-Mitglied von Radikal jung seit der Gründung des Festivals.

 

C. Bernd Sucher © Thomas Dashuber