Auf ukrainischen schlechten Straßen

Pavlo Arie in der Sprache seines Exils über "Bad Roads" in der Regie von Tamara Trunova, die schon drei Jahre vor der brutalen russischen Invasion ein düsteres Bild des Krieges zeigt. Jetzt hat die Realität die Aufführung tragisch erneuert.

Autor: Pavlo Arie

Vom ersten Blick an ist das Bühnen des Stückes sehr vielsagend. In der Mitte der Bühne stehen Gitterstäbe, sie trennen Bühnen- und Zuschauerraum, sie scheinen unsere Vergangenheit und unsere Zukunft abzugrenzen. Diejenigen von uns, die jetzt leben, müssen diese Gitter durchbrechen. Nicht alle werden diesen Versuch überleben, manche werden dabei zu Hackfleisch verarbeitet werden, manche werden für immer in der Vergangenheit zurückgelassen. Haben wir heute Glück?

Es ist schwierig dieses Stück einem bestimmten Genre zuzuordnen. Wir können sagen, dass die sechs Kurzgeschichten aus denen "Bad Roads" besteht ein "pseudodokumentarisches Werk" ergibt. Der Text des Stücks ist eine künstlerische Interpretation, gesammelt und manchmal sogar erlebt und dann verarbeitet, stilisiert, zugespitzt von der ukrainischen Kult-Dramatikerin Natalka Vorozhbyt. Alles ist orientiert an realen Ereignisse, in der Ostukraine, deren Handlung sich nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2014 entfalteten.

Bad Roads (c) Mantach
Ich wollte noch etwas tun, noch etwas darüber schreiben, denn ich war zu voll davon [...]
Natalka Vorozhbyt

In einem Interview für meinen Dokumentarfilm spricht Natalka ausführlich über die Entstehung dieses Textes: "Nach Beginn des Krieges hatte ich viele Gründe, in den Osten der Ukraine zu fahren. Ich habe ein Theaterstück mit Jugendlichen im Donbass in der Stadt Mykolayiwka gemacht. Die Kinder haben gerade den Krieg miterlebt, es war in einem bereits freigekämpften Städtchen, die Jugendlichen waren sehr traumatisiert. Ich machte mit diesen Kindern ein Dokumentar-Theaterstück. Ich habe auch viel mit den Einheimischen kommuniziert. Zugleich habe ich das Drehbuch zum Film 'Cyborgs' geschrieben. Es handelt über die Kämpfe am Flughafen Donezk. Für diesen Film führte ich viele Interviews mit verschiedenen Militärs und besuchte viele Truppenteile, ich hatte dort Berater. Und dann hatte ich viel mehr Insiderinformationen, als ich für einen Film benötigte. Diese Erfahrung und die Gespräche haben mich nachdenklich gemacht, ich habe so viele Leute getroffen und so viele Geschichten gehört, dass ich es irgendwie und für irgendetwas verwenden wollte, ich wollte noch etwas tun, noch etwas darüber schreiben, denn ich war zu voll davon, überfüllt. Später erfuhr das Royal Court Theater in London über meine Reisen, und gab ein Theaterstück bei mir in Auftrag. Ich sollte alles was ich über meine Reisen in die Donbass-Region erfahren hatte, verarbeiten. So wurde dieses Theaterstück geboren."

Bad Roads (c) Mantach

"A powerful play ... A metaphor of the hard emotional ways that women choose during the war. Vorozhbyt becomes the Ukrainian Sarah Kane" - The Guardian

 "A savage look at dehumanizing impact of war" - The Independent

"Unflinching examination of the personal and the sexual, of the horrific intimacy of war" - Exeunt Magazin

Die sechs Episoden von "Bad Roads" sind durch das Thema Krieg vereint. Aber zu sagen, dass dies eine Kriegsgeschichte ist, wäre nicht ganz richtig. Ich würde es vielmehr eine Lebensgeschichte nennen. Schließlich erzählt "Bad Roads" von der Beziehungen der Menschen, die der Krieg geprägt hat, auch von den Verletzungen, die nie heilen werden, mit denen wir weiterleben müssen. Eine der Heldinnen des Stücks notiert: "Wir hatten hier auch vor dem Krieg schlechte Straßen." Diese Aussage macht den Titel des Stücks ziemlich metaphorisch.

Nun gehen die Schauspieler*innen von "Bad Roads", wegen der plötzlichen, weltweiten Aufmerksamkeit eines Krieges, eines Krieges der aber eigentlich schon mehr als acht Jahre andauert, von ihrem Heimattheater in Kiew vertrieben, auf große Tournee in Europa und eröffnen, zwischendurch, das diesjährige Radikal Jung Festival.

Es scheint, als ob schlechte ukrainische Straßen, heute gute europäische Straßen überlagern und vieles in Frage stellen, was die Europäer bis zum 24. Februar 2022 so gerne glaubten. Sind, aber wirklich, diese europäischen Straßen so gut? Ja, "Bad Roads" stellt uns alle viele sehr unangenehme Fragen. Das Stück von Natalia Vorozhbyt wurde erstmals im Oktober 2017 im Royal Court Theatre in London aufgeführt und erhielt begeisterte Kritiken.

Wie autobiografisch dieses Stück ist, will Natalka Vorozhbyt nicht beantworten. Es gibt Männer und Frauen im Stück, aber Tamara Trunova sagt, dass es für sie die Geschichte einer Frau im Krieg ist. Wer ist diese Frau? Eine bestimmte Person oder ist es ein kollektives Bild? Schließlich hören wir ganz am Anfang die Autorin des Stücks Natalka Vorozhbyt, die sich höchstwahrscheinlich selbst beschreibt. Am 27. September 2018 premierte das Stück in der Ukraine in der Regie von Tamara Trunova und wurde auf der Bühne real. "Bad Roads" ist fast der erste und einer der wenigen bis heute dramatischen Texte zum Thema des Krieges in der Ukraine - in der Ukraine auf einer großen Bühne realisiert. 

Ich hatte das Gefühl, dass wir es versäumen werden, bestimmte wichtige Themen rechtzeitig anzusprechen.
Tamara Trunova, Regisseurin

In einem Gespräch mit mir erinnert sich Tamara: "Ich habe nach einem Text für eine Theateraufführung gesucht, und ich habe Nataliya Vorozhbyt gefragt, ob sie nicht zufälligerweise ein neues Stück hat. Sie antwortete mir, dass sie gerade ein Stück schreibt, aber kein Theater in der Ukraine wird es je aufführen würde." Das hat Tamara Trunova natürlich sehr neugierig gemacht: "Ich habe den Text bekommen, habe es gelesen und habe sofort gewusst, dass ich das machen soll." Tamara Trunova suchte nach einer Bühne, wo sie dieses gesellschaftlich wichtige Material künstlerisch umsetzen könnte. So fing sie an, mit bedächtigem Schritt das Stück "Bad Roads" diversen Theaterbühnen anzubieten.

"Ich hatte das Gefühl, dass wir es versäumen werden, bestimmte wichtige Themen rechtzeitig anzusprechen" sagte damals Tamara. Sie sah voraus, spürte, dass die größte Trauer uns in der Zukunft erwartet. Und ihr Ahnung von damals hat sich als richtig herausgestellt. Auch die Autorin des Textes, Natalka Vorozhbyt, hatte Recht, es war sehr schwierig, einen Ort für so eine Produktion zu finden. Erstmals wurde es auf einer freien Bühne "Stage 6" ermöglicht, als Projekt für ein paar wenige Vorstellungen. Die Premiere fand am 27. September 2018 statt. Aber dann, auf der Bühne des Kiewer Akademischen Drama und Komödientheaters am linken Ufer des Dnipro fand am 17. Mai eine neue Premiere, eine Zweitauffühung des Stücks "Bad Roads" statt. Das Stück hatte endlich ein festes Zuhause.

Regisseurin Tamara Trunova
In Tamara Trunovas Stück gibt es einen Krieg, aber es gibt keine Waffe, aber doch gibt es Menschen.

Zusammen mit ihren Schauspielern hat Tamara neue Formen der Textpräsentation für das ukrainische Theater gesucht und gefunden. Der Weg zur fertigen Aufführung führte über das Experimentieren mit verschiedenen Kunstformen, visuellen Bildern, performativen Spiel, über Lieder aus der postsowjetischen Zeit und anderen Elementen. Immerhin ist dieser Krieg durch die Regisseurin als kulturelles Erbe des Sowjetreichs zu spüren. Das letzte, was uns mit den Völkern der UdSSR vereint hat, war die Pseudokultur des sowjetischen Narrativs, der Lieder und Geschichten. Im Zerfall der Union versuchte jeder, seinen eigenen Weg zu gehen. Aber diese alte Geschichte bleibt bei uns, wie eine Zeitbombe. Jetzt durch diesen neuen, harten und zerstörerischen Kriegsausbruch sehen wir, wie richtig Tamara Trunova damals diese postsowjetische Kulturphänomen interpretiert und auf der Bühne verwendet hat. 

Der heutige russische Angriffskrieg gegen die Ukraine richtet sich auch gegen die Geschichte der ukrainischen Kunst und Kultur. 

Der Krieg in der Ukraine lässt sich nicht auf Bombenexplosionen, den Beschuss und die Namen von Toten reduzieren. Zwischen den Fronten leben außergewöhnliche Menschen, die auf den zerstörten Straßen des Donbass zusammenkommen. In Tamara Trunovas Stück gibt es einen Krieg, aber es gibt keine Waffe, aber doch es gibt Menschen. Die Regisseurin möchte betonen, dass Menschen die mächtigste Waffe sind. Waffen töten nicht, Menschen töten.

Ich habe den Eindruck, dass ich diese Eindeutigkeit für immer verloren habe. Meine Klarheit von was gut und was böse ist, hat sich in den verschiedenen unschuldigen Narrativen aufgelöst.
Tamara Trunova

Mit solchem Wissen fühlt sich ein Mensch schrecklich. Man spürt die Hilfslosigkeit.

In ihrem Stück zeigt uns die Regisseurin unsere Ungeborgenheit und unsere verlorenes Paradies, dessen Motiv im Stück "Bad Roads" zu finden ist: “Das ist wie ein warmes Zimmer mit lauer Luft, wo man die Kindheit immer noch spüren kann. Und ich habe den Eindruck, dass ich diese Eindeutigkeit für immer verloren habe. Meine Klarheit von was gut und was böse ist, hat sich in den verschiedenen unschuldigen Narrativen aufgelöst."

"Bad Roads" von Tamara Trunowa spricht über Hilfslosigkeit und das Gefühl von sehr dünnem Eis, worauf wir alle stehen, wird durch die damalige politische Situation in der Ukraine und die Bewertungen von Meinungsumfragen noch mehr bekräftigt.

 

Ich denke, es wird schwierig sein, nach allem, was wir gesehen und erlebt haben, auf die Bühne zurück zu kommen. Aber es ist unmöglich, auf der Bühne und hinter der Bühne nicht über unseren Krieg zu sprechen, sonst verlieren wir.
Dmytro Oliynyk, Schauspieler

Diese Theaterstück war damals eine Warnung, dass die Grenzen, die täglich zwischen uns offensichtlich oder nicht offensichtlich aufgebaut werden, uns immer mehr voneinander distanzieren. Es war eine Warnung, dass wir in einer sehr nahen Zukunft nicht mehr in der Lage sein werden, andere Meinungen zu hören und diese zu verstehen versuchen, mit anderen Stellungnahmen zu arbeiten oder einer anderen Person wirklich zuzuhören.

Tamaras "Bad Roads" besteht aus zwei Teilen:

Die erste Geschichte und alle anderen Geschichten. Die Aufführung ist so aufgebaut, dass all die Charaktere, welche die Hauptprotagonistin in der ersten Episode begleiten, schon gestorben sind. Diejenigen, die sie aus der Konfliktzone im eigenen Herzen, in eigenen Gedanken, in eigenen Erinnerungen mit sich nimmt. Diese werden sie das ganze Leben lang begleiten, wie ein schwarz-weißer Kreis um sie rundherum sein. Es erklingt ein Nachhall der nicht mehr existierenden Stimmen. Die anderen Episoden sind wie eine Erinnerung an die gehörten und gesehenen Geschichten, die aufgenommenen Interviews, Erinnerungen. Die Protagonisten sind bereits verstorben, sie können sozusagen das letzte Mal auf ihre letzte Geschichte, in der sie ums Leben kamen, zurückblicken. Falls jemand glaubt, dies kann ihn oder sie keinesfalls betreffen, so irrt man sich drastisch. Das wissen wir nun.

Das ist kein Spiel mehr, sondern unser Leben.

Seit 24. Februar 2022 ist alles anderes geworden und "Bad Roads" hat sich absolut erneuert.  Das ist kein Spiel mehr, sondern unser Leben. Und wenn wir vorher nur von denen im Osten von einem solchen Leben gehört haben, sehen wir jetzt alles hier in der unsere ganzen Ukraine. Das bringen wir jetzt nach Europa mit.

Eine "Bad Roads"-Schauspielerin, Anastasia Pustovit, sagt: "Erst jetzt verstand ich, wie es war, unter den Bedingungen der Besatzung zu überleben. Erst jetzt verstand ich, was Krieg war. Und ich schäme mich, dass ich acht Jahre lang von all dem abgeschnitten war. Das Mädchen, das ich spiele, überlebt so gut sie kann. Sie versucht, sich selbst und zumindest etwas in sich selbst zu retten. Die Eisenstangen zu durchbrechen, aber es funktioniert nicht. Es ist eine Vereinbarung mit dem eigenen Gewissen, es ist eine Wahl zwischen Leben und Tod. Während der Besatzung habe ich oft Monologe aus Theaterstücken erwähnt und sie wiederholt. Zur Erinnerung an das vergangene Leben. Ich vermisse die Bühne und das Theaterstück, aber bisher ist es schwierig."

Ein anderer Schauspieler, Dmytro Oliynyk, sagt: "Ich denke, es wird schwierig sein, nach allem, was wir gesehen und erlebt haben, auf die Bühne zu kommen. Aber es ist unmöglich, auf der Bühne und hinter der Bühne nicht über unseren Krieg zu sprechen, sonst verlieren wir."

Das Schreckliche aber ist, dass ab jetzt für die Schauspieler*innen von "Bad Roads" ihre Charaktere keine Charaktere mehr sind– es sind ihre Frauen, Kinder, Männer, ihre Freunde und Verwandten. Diejenigen, die in Bucha, Gostomel, Irpen waren. Diejenigen, die im nächsten Haus verprügelt, vergewaltigt, getötet wurden, es sind jetzt ihre Verwandten, ihre Nachbarn, noch mehr - jetzt sind sie es selbst. Wenn sie mich fragen wie das gespielt werden kann, sage ich ihnen: "Ich weiß es nicht."

Mehr zum Autor Pavlo Arie

Pavlo Arie ist ein ukrainischer Dramatiker, Übersetzer und Dramaturg, geboren in Lviv, lebte er bis vor kurzem in Kiew, jetzt ist er in Köln ansässig. Er ist der Gewinner zahlreicher Preise und hat 2016 für den Heidelberger Stückemarkt als internationaler Gastkurator gearbeitet. Von 2019 bis heute ist er in der Leitung des Kiev Academic Drama and Comedy Theater on the left bank of the Dnieper.