Ein Inszenierungsfoto aus Identitti

Die trotzige Wahrheit der Kunst

Der Regisseur Kieran Joel durchpflügt in seiner Inszenierung von Mithu Sanyals "Identitti" am Schauspielhaus Düsseldorf schwere Diskurse mit Heiterkeit – und wirft ebenso klug wie unterhaltsam komplexe Identitäts- und Zuschreibungsfragen auf.

Text: Dorothea Marcus

Wie soll man den Roman "Identitti" nur auf die Bühne bringen? 450 Seiten, über weite Teile getweetet und gebloggt, diverse Zeit- und Metaebenen wechseln sich ab. Ein Bestseller, der die erbitterten Identitätsdiskurse von heute komplex verhandelt – und gleichzeitig die Absurdität der Diskurs-Auswüchse so auf die Spitze treibt, dass befreites Gelächter möglich ist.

Im Schauspielhaus Düsseldorf, das erste Mal an so einem großen Haus, gelingt es Regisseur Kieran Joel jedoch mit Lässigkeit, die Essenz des Romans "Identitti" zu treffen, auf einer wilden, bunten und anekdotischen Reise durch das Buch. Und, gemeinsam mit dessen Autorin Mithu Sanyal, die auch die Textfassung geschrieben hat, einen hochkomplexen Diskurs auf heitere, liebevolle und irgendwie erleuchtete Weise zu entschärfen. Ganz "radikal jung" ist Kieran Joel nicht mehr, sondern bereits 37 Jahre alt. Erst vor fünf Jahren hat er das Regiestudium an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in Berlin abgeschlossen, da er sich spät bewarb. Also eben doch ein "junger" Regisseur. 

Identitti (c) Düsseldorfer Schauspielhaus
Gute Gespräche, guter Weißwein

Aufgewachsen ist er in Niebüll, tiefste Provinz in Nordfriesland an der dänischen Grenze: "Ich wusste bis nach meinem Abitur gar nicht wirklich, was Theater ist", sagt er – zugeschaltet per Zoom aus der Wohnung seiner Freundin in Köln. Er pendelt zurzeit zwischen Köln und Bochum, wo er sich um seinen siebenjährigen Sohn kümmert. Und auch, wenn er aus einer nicht besonders theateraffinen Familie kommt, war es seine Mutter, die ihm das "Initiationserlebnis Theater" ermöglichte, wie Joel es nennt. Sie schrieb als Journalistin ein Porträt über den Regisseur Dieter Wedel, er begleitete sie und kam mit den Schauspieler*innen von Wedels Projekt in Kontakt: gute Gespräche, Weißwein, es war Sommer. "Und dann gingen die Proben wieder los, und die Schauspieler*innen waren auf der Bühne komplett andere Menschen – ich weiß noch, dass das so ein Erschütterungsmoment war", erzählt er.

Kieran Joel (c) Sally Ploeger
Das, was du da machst, hat doch eigentlich gar nichts mit dir zu tun. Du bist doch eigentlich witzig. Zeig das doch mal.

Danach wollte Kieran Joel eigentlich Schauspieler werden, ging aber erstmal nach Hamburg für ein Freiwilliges Soziales Jahr in einem Kulturzentrum. Dort lernte er die freie Theaterszene kennen, erfuhr, dass man sich als Regieassistent bewerben kann – Sprungbrett-Job und elende Schufterei – und landete am Thalia Theater bei Andreas Kriegenburg. Die erste Bewerbungsrunde an Regieschulen wurde nichts, dann assistierte er am Theaterhaus Jena, anschließend beim Film – und wurde schließlich mit 28 Jahren doch noch angenommen beim Regiestudium. "Meine ersten Arbeiten waren fürchterlich und heftigstes Epigonentum, sie schwankten vom Stil her stets zwischen Andreas Kriegenburg und Michael Thalheimer, düster und dunkel", sagt Kieran Joel.

Entspannender Humor, clevere Brechungen

Kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen, denn das herausragendste Merkmal seiner Inszenierungen ist heute ihr grandioser Humor, sind die cleveren Brechungen, das stete Aus-dem-Rahmen-Treten und Selbstbefragen der Figuren. "Der Humor", erklärt er selbst, "ist Teil meiner DNA und die Grundlage meiner Arbeit." Herausgekitzelt wurde er durch einen Mentor und Freund, der ihm irgendwann sagte: "Das, was du da machst, hat doch eigentlich gar nichts mit dir zu tun. Du bist doch eigentlich witzig. Zeig das doch mal."

Komik ist für Kieran Joel seitdem von existenzieller Wichtigkeit: "Nicht nur in dem Sinne, dass Humor entspannt und Resilienz aufbaut, Erleichterung und Eskapismus ermöglicht. Humor kann vielmehr eine Distanz schaffen zur Realität. Und durch diese Distanz können wir die Realität auch als veränderbar wahrnehmen. In dem Moment, in dem ich sie als total absurd, sinnlos und komisch zeige, kann ich auch in ihr handeln. Darin liegt Freiheit."

Unerhörtes umgekehrtes "Passing"

Die Witze von Joel auf der Bühne sind vielleicht manchmal etwas grenzwertig. Etwa, als in "Identitti" Kali – die Privat-Schutzgöttin der Protagonistin Niveditta – diese einmal durch die Augen eines "alten weißen Mannes" blicken lassen will. Da wird die Hauptdarstellerin Cennet Rüya Voss tatsächlich für eine Minute gegen einen alten weißen Mann ausgetauscht.

Aber wenn die Witze provozieren, kann man das durchaus als Qualitätsmerkmal begreifen. Ohnehin stellt die Besetzungsstrategie in "Identitti" jederzeit klar, dass Identitäten aus Zuschreibungen bestehen, die sich im Theater locker verändern lassen – aber eben auch seine lustvolle Kernkompetenz ausmachen. Die Handlung kurz zusammengefasst: Nivedita, Bloggerin, "mixed-race", ist verstört, weil ihre Professorin und großes Vorbild Saraswati, angeblich Inderin, geoutet wurde. Ausgerechnet diejenige, die einst alle weißen Studierenden aus ihrem Seminar warf, heißt in Wirklichkeit Sarah Vera Thielmann, ist weiß und biodeutsch – und hat ein unerhörtes umgekehrtes "Passing" vollzogen, sich als Superprivilegierte eine fremde kulturelle – unterprivilegierte? – Identität angeeignet. Oder? Wenn Geschlecht fluid sein kann, dann vielleicht auch Herkunft? Und überhaupt hat Saraswatis Anmaßung mehr mit persönlicher Traumatisierung zu tun als man zu Beginn vermutet.

Nichts ist eindeutig, alles kann umgedreht werden

Ein aberwitziger Stoff, dem Kieran Joel in seiner Inszenierung noch manchen Twist hinzufügt, ihn auf die Rassismus-Vorfälle am Schauspiel Düsseldorf bezieht oder auf die Fragen, wer wen im deutschsprachigen Theater eigentlich spielen darf und ob man immer colourblind besetzen muss.

Im gefaketen WDR5-Kulturinterview mit echter WDR5-Moderatorin wird etwa die Herkunft der Nivedita-Darstellerin Cennet Rüya Voss als Kind türkischer Gastarbeiter-Eltern thematisiert, die man sonst höchstens aus dem Namen heraus vermuten könnte. Auch die schwarze Schauspielerin Fnot Taddese wechselt souverän zwischen der Rolle der schwarzen Oluchi und der weißen Lotte: Als Niveditas Kommilitonin Oluchi führt sie den Twitter-Shitstorm gegen Professorin Saraswati an oder schleudert kluge Antirassimus-Argumente in den Raum. Als Lotte spielt sie eine privilegierte Weiße, die in woke klingender Sprache die Diskriminierung von Weißen behauptet – aber trotzdem verlässlich zur Stelle ist, wenn Nivedita ein Problem hat. Nichts ist hier eindeutig, alles kann jederzeit umgedreht werden.

Ein Portraitfoto von Identitti

Identitti (c) Düsseldorfer Schauspielhaus

Ein Portraitfoto von Identitti

Identitti (c) Düsseldorfer Schauspielhaus

Ein Portraitfoto von Identitti

Identitti (c) Düsseldorfer Schauspielhaus

Ein Portraitfoto von Identitti

Identitti (c) Düsseldorfer Schauspielhaus

Flirren im Kopf

Clever gelöst hat Joel auch die Besetzung von Professorin Saraswati: Es gibt sie einfach doppelt. Einmal als blonde Schauspielerin Friederike Wagner, einmal als dunkelhaarige Darstellerin Leila Abdullah, die sich vom Typ her zum Verwechseln ähnlich sehen und nebeneinander ein seltsames Flirren im Kopf erzeugen: Ein schöner Kommentar darauf, dass Farbenblindheit bei der Besetzung selbstverständlich sein sollte – und sich irgendwann auch im eigenen Kopf einstellt. Und dann ist da ja auch noch Kali, Niveditas Schutzgöttin und Ratgeberin in Sexfragen, die vom männlichen Darsteller Serkan Kaya gespielt wird, schließlich gibt es ja auch zwischen Frau und Mann Identitätsübergänge. Kali ist ein schrilles, eitles und knallblau angemaltes Wesen mit acht pinkfarbenen Armen, das gerne einwirft, dass im Theater ja alles möglich sei. Sehr lustig ist auch, wie Niveditas narzisstischer (weißer) On-Off-Boyfriend Simon erst am Ende auftaucht und Aufmerksamkeit einfordert, in den erhitzten Diskursen um Identität und Aneignung aber total fehl am Platz ist.

Spannungen, Kämpfe, Druck

Wie sieht Joel persönlich denn die Identitätsdiskurse, die er mit seiner "Identitti"-Besetzung so listig aushebelt, indem er einfach behauptet, dass jede*r alles spielen kann – und eben doch wieder nicht? "Natürlich sollte es im Theater möglich sein, dass jede*r alles spielt, aber es ist eben leider in die Hose gegangen: Der weiße Cis-Mann ist zur Norm geworden, und das hat dafür gesorgt, dass bestimmte Gruppen nicht auf Bühnen vorkommen. Damit diese jetzt partizipieren, muss es Spannungen, Kämpfe, Druck geben. Wir müssen da jetzt durch eine Art Geburtskanal hindurchgehen, damit es eines Tages möglich sein wird."

Auch hier ist Humor hilfreich. Ein gutes Match, dass Kieran Joels Freundin –– hauptberuflich als Stand-Up-Comedian tätig ist. Joel schreibt manchmal für sie ein paar Gags; gut möglich, dass er mal selbst mal mit einem Comedy-Programm auf die Bühne geht.

Natürlich sollte es im Theater möglich sein, dass jede*r alles spielt, aber es ist eben leider in die Hose gegangen: Der weiße Cis-Mann ist zur Norm geworden [...]
Kieran Joel
Komplex und unterhaltsam

Wie er sich als Theatermacher selber spielend zur Disposition stellt, ist auch nachzusehen auf der Webseite des kleinen freien "Theater am Bauturm" in Köln. Dort steht immer noch der Film online, den Kieran Joel während der Corona-Zeit gedreht hat: "Das Theater und sein Double. Eine Projektion" ist der Versuch einer Inszenierung von Antonin Artauds legendärem Theatertext – und stellt zugleich in mehrfacher Verschachtelung der Ebenen klar, welch Verrat an diesem elementaren und extremen Stück Kunst geschieht, wenn man es bühnenkompatibel macht. Immer wieder tritt er als Regisseur Kieran Joel auf, der den Schauspieler Jeremy Mockridge bei "Proben" neu ansetzen lässt, zum Äußersten treibt, bis der (theater)blutüberströmt die (pandemiebedingt erforderliche) Glaswand bespuckt und der (reale) Dramaturg des Hauses, René Michelsen, das Ganze so sehr lobt, dass man den Zweifel spürt. Am Ende erscheint Kieran Joel gedoppelt im Bild: das Artaud-Ich, sein "Double" in schwarzer Adidas-Jacke, beschwört das verstört lauschende Regisseurs-Ich in Rot, den Film zu löschen, da er Artaud verrate. Das Ergebnis des Verrats, den Online-Film, kennen wir. Es sind diese Art von Verschachtelungen, Rahmungen, Ebenen, Brechungen, die Kieran Joel liebt, die seine Arbeiten faszinierend, komplex, aber auch total unterhaltsam machen.

"Ein Sommernachtstraum" in der Regie von Kieran Joel am Münchner Volkstheater (c) Arno Declair
Viel Vertrauen, permanentes Gespräch

Für einen Regisseur, der auf dem Absprung auf das Karriere-Karussell der deutschen Stadttheater ist, bei dem bereits die Vordiplom-Inszenierung "Don Karlos" zu den Mannheimer Schillertagen eingeladen wurde, der für das Körber Studio Junge Regie (2016) ausgewählt wurde und der heute am Volkstheater München, Konzert Theater Bern oder Staatstheater Nürnberg arbeitet, ist es ungewöhnlich, sich einem kleinen freien Kölner Theater wie dem Theater am Bauturm noch so verbunden zu fühlen. Dort ist er sogar der offizielle Hausregisseur. "Das Leitungsteam kennenzulernen, war Liebe auf den ersten Blick", sagt er und bezeichnet das kleine Theater im trubeligen Belgischen Viertel von Köln als seine künstlerische Heimat, auch wenn er da nur ein Bruchteil der Stadttheater-Gagen erhält. "Es ist der Ort, an dem ich genauso arbeiten kann wie ich will, aus dem Moment heraus, mit unglaublich viel Vertrauen, ohne Druck und in permanentem Gespräch."

Haushalten mit der eigenen Energie

Im Theater am Bauturm hat Kieran Joel im Jahr 2017 eine erste Theaterarbeit gemacht, sie hat ihm viel bedeutet – und ihn in der Kölner freien Szene schlagartig bekannt gemacht. Der "Don Quichote" von Cervantes mit nur zwei Schauspielern war ein "fantastischer Abenteuerspielplatz, auf dem Don Quijotes Fantasie gewaltige Flügel wachsen", schrieb ein Kritiker. Lustvoll wurde das Publikum mit einbezogen, vom Manipulator Quijote in feindliche Ritterheere eingeteilt, zur emotionalen Gemeinschaft gemacht. Per Voice-Over schaltete sich immer wieder Joel selber ein, der das wilde Treiben zur Abbildung der Probearbeiten erklärte – und so stets den Betrieb an sich mitreflektierte und zugleich das utopische Potential von Theater freilegte: mit seiner ganzen Fragilität und Vergänglichkeit eine ganz eigene, trotzige Wahrheit der Kunst zu sein.

Ungefähr vier bis fünf Inszenierungen schafft Kieran Joel pro Jahr, eine davon möglichst im Theater im Bauturm. Er weiß aber trotzdem ganz gut, dass er mit der eigenen Energie haushalten muss. Nebenbei unterrichtet er auch noch Regie an der Folkwang Schule in Essen, ist engagiert Vater, liest, schreibt, schwimmt. Was das Fernziel wäre? Auf jeden Fall nicht, als Großregisseur durch die Theater der Republik zu touren. Sondern: Teil eines Leitungsteams zu sein, kontinuierlich mit einem Ensemble zu arbeiten, endlich nicht mehr den Ausnahmezustand – auf Durchreise zu sein – als Dauerzustand zu erleben, sondern in Verantwortung zu gehen.

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Dorothea Marcus

Dorothea Marcus ist seit 1999 freiberufliche Kulturjournalistin, Radioautorin und Theaterkritikerin u. a. für taz, Deutschlandfunk, WDR, Theater heute und nachtkritik.de. Von 2009 bis zu deren Ende 2014 war sie Chefredakteurin der Kölner Theaterzeitung über die freie Szene aKT und von 2016 bis 2019 Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens. Außerdem ist sie Mitglied des Kölner Theaterbeirats, Lehrbeauftragte an der Universität Köln sowie der Deutschen Sporthochschule Köln, Mitgründerin der neuen Kritik-Plattform Kritik-gestalten.de und Moderatorin von Podiumsdiskussionen.