"Es ist ungeheuer wertvoll, sich in einem realen Raum in realer Zeit mit realen Körpern zu begegnen."

Am 24. Juni startet nach zweijährige Pause das Festival "Radikal jung". Der Festivalleiter Jens Hillje erzählt im Interview, was das Publikum bei der diesjährigen Festivalausgabe erwartet.

Interview: Tobias Obermeier

Wie radikal und jung ist das Theater im Jahr 2022?
Erstmal ist es ein Theater, das eine radikale Erfahrung hinter sich hat. Nämlich die zwei Jahre Pandemie und alles, was sie mit sich gebracht hat. Und die Werke, die wir über die zwei Jahre angeschaut haben, setzen sich einerseits mit dieser Situation auseinander und andererseits setzen sie sich auch darüber hinweg. Vor allem aber arbeiten sie an radikalen Themen.

Welche Themen sind das?
Einen inhaltlichen Schwerpunkt bilden die Debatten um Rassismus und Black Lives Matter. Ein anderes Themenfeld ist immer noch alles, was mit #metoo zusammenhängt. Also Arbeiten, die sich radikal mit den Geschlechterverhältnissen in unserer Gesellschaft auseinandersetzen und queere und feministische Standpunkte einnehmen. Die Inszenierungen bearbeiten diese inhaltlichen Herausforderungen auf eine sehr radikale Weise. Es gibt zum Beispiel das Phänomen von einem verstärkt essayistischen Theater. Ein zweiter Aspekt ist die Arbeit mit Musik und Tanz. Das sind die künstlerischen Schwerpunkte des Programms in diesem Jahr.

Theater hat die besondere Fähigkeit, Ambivalenzen und verschärfte Konflikte auszuhalten und zu verhandeln.

Warum arbeitet das junge Theater vermehrt mit essayistischen Formen?
Theater hat die besondere Fähigkeit, Ambivalenzen und verschärfte Konflikte auszuhalten und zu verhandeln. Also nicht polarisierend damit umzugehen, sondern die Radikalität der unterschiedlichen Haltungen in eine sehr geduldige und diskursive Auseinandersetzung zu bringen. Dadurch entstehen herausfordernde und interessante Arbeiten wie "Identitti" von Kieran Joel und "Karneval" von Joana Tischkau, die ich da herausheben würde.

Ein Theater also, das nicht erklären möchte, wie die Welt funktioniert, sondern einfach nur Fragen stellt?
Wobei es die große Kunst ist, Fragen sehr genau zu stellen. Also Fragen nicht einfach allgemein zu stellen, sondern sie mit sehr viel Nachdenken sehr präzise zu stellen. Konflikte müssen mit Geduld verhandelt und können nicht über das Knie gebrochen werden.

2020 sollte dein erstes Jahr als Leiter von "Radikal jung" sein. Wie fühlt es sich an, dass das Festival nach zwei Jahren des Wartens endlich stattfinden kann?
Wahnsinnig gut! Die zwei Jahre waren schon sehr hart und manchmal auch sehr deprimierend. Es gleicht einem Wunder, dass das jetzt tatsächlich stattfindet. Deswegen bin ich sehr glücklich und es sind sehr spannende Arbeiten dabei. Die Auswahl reicht von ganz analogen Arbeiten bis hin zu einer Inszenierung, die derzeit am besten mit dem Thema des digitalen Theaters umgeht. Nämlich "werther.live" von Cosmea Spelleken. Das ist etwas ganz radikal neues, was da entstanden ist.

Ein Screenshot des Chats zwischen Werther und Lotte

werther.live (c) Punktlive

Ein Screenshot des Chats zwischen Werther und Lotte

werther.live (c) Punktlive

Ein Screenshot des Chats zwischen Werther und Lotte

werther.live (c) Punktlive

Inwiefern?
"werther.live" nimmt "Die Leiden des jungen Werther", einen Klassiker des deutschen Kanons, und übersetzt ihn in eine moderne Social-Media-Welt. Also in eine ganz andere Form der Kommunikation, die live und online stattfindet. Das ist mit Sicherheit die gelungenste und interessanteste Arbeit, die in den letzten zwei Jahren im deutschsprachigen Theater entstanden ist.

Die Inszenierung findet nur im digitalen Raum statt?
Ja, aber man kann sich tatsächlich im Theater mit seinem Laptop treffen und sich das Werk gemeinsam anschauen. Es ist eine sehr interessante künstlerische Auseinandersetzung mit sozialen Kommunikationsformen vom ursprünglichen Briefroman bis hin zum Chat.

Worüber freust du dich am meisten?
Dass es uns gelungen ist, mit "Bad Roads" eine sehr gute ukrainische Produktion vom Left Bank Theatre in Kyjiw als Eröffnung des Festivals zu gewinnen. Die Inszenierung ist eine sehr ehrliche Art der Auseinandersetzung mit der Realität des Krieges und der physischen und psychischen Verwüstung, die er bei den Menschen auslöst. Die Arbeit basiert auf einer Recherche, die Natalia Vorozhby und Tamara Trunova im Donbass gemacht haben. Sie zeigt, wie radikal verändert die heutige Situation in Europa ist und dass wir aber in der Lage sind, über diese neue Realität zu erzählen. Darauf bin ich besonders Stolz.

Gibt es während dem Festival weitere Formen des Austauschs mit ukrainischen Theatermacher*innen?
Es gibt eine Art Welcome-Class. Das heißt, ukrainische Kolleg*innen, die im Exil leben, sind eingeladen, das Festival gemeinsam mit Regiestudierenden von deutschen Theaterschulen zu besuchen, miteinander zu diskutieren und die Arbeit hier kennenzulernen. Wir wollen ihnen helfen, einen Zugang in das Netzwerk der hiesigen Theatermacher*innen zu finden.

Ein Inszenierungsfoto aus "Bad Roads" (UA)

Wie wichtig ist der Austausch in der Theaterszene über internationale Grenzen hinweg
Festivals wie "Radikal jung" sind sehr wichtig, weil man sich persönlich sieht und gegenseitig beeinflusst. Das, was wir in der Schauspielkunst von Produktionen wie der Ukrainischen und der britischen Produktion "Civilisation" von Jaz Woodcock-Stewart sehen, sind sehr unterschiedliche ästhetische Welten, die sich gegenseitig befruchten können. Dadurch entwickelt man sich weiter und gelangt zu einer Auseinandersetzung, die im besten Fall radikal zeitgenössisch ist.

Theaterfestivals sind auch die einzige Möglichkeit, internationale Inszenierungen anzusehen, ohne selbst zu reisen.
Genau! Da reisen gerade Produktionen aus England, der Ukraine und Griechenland zu uns nach München. Das ist ein sehr tolles Gefühl.

Für mich hat Theater auch immer eine emotionale Ebene, die Trost spendet.

Was können die alten Theatermacher*innen von den jungen lernen?
Die politische Qualität in der Auseinandersetzung mit Themen. Das ist schon eine andere und neue Perspektive. Also wie sehe, bewerte, denke und spreche ich über die Realität der Gesellschaft. Und da kann man als älterer Kollege von den jungen wirklich lernen und sehen, wie man auch das eigene Sehen und das eigene Denken schärft und weiterentwickelt.

Wie kann das Theater uns in der jetzigen Zeit helfen, die sehr stark von Krisen geprägt ist?
Geteiltes Leid ist halbes Leid. Im Theater teilt man die Wahrnehmung der Gegenwart und ihrer Krisen. Für mich hat Theater auch immer eine emotionale Ebene, die Trost spendet, weil man es gemeinsam als Publikum erlebt und verarbeitet. Das Theater hat die Möglichkeit, einen abzuholen und mitzunehmen. Und am Ende des Abends sieht man die Welt vielleicht etwas anders oder ganz neu.

Hast du Angst um die Zukunft des Theaters?
Nach den ganzen Isolationserfahrungen der letzten zwei Jahre merke ich, wie ungeheuer wertvoll es ist, sich in einem realen Raum in realer Zeit mit realen Körpern zu begegnen. Das ermöglicht nur das analoge Theater. Deswegen habe ich gar keine Angst, dass das vom Publikum nicht mehr erlebt werden will. Es ist eine Herausforderung, die Leute wieder ins Theater zu holen. Das war vor Corona eine schöne Gewohnheit und die muss man sich erst wieder erarbeiten. Und dabei müssen wir als Theatermacher*innen helfen.

"Radikal jung" bietet dafür sicher eine sehr gute Gelegenheit.
Auf jeden Fall! Wir müssen gute Erlebnisse und Erfahrungen schaffen. Dann kommen die Leute zurück und gewöhnen sich wieder daran.