Jens Hillje © Gabriela Neeb

"Reisen durch imaginäre Welten, um die neuen Wirklichkeiten besser zu verstehen"

Am 27. April eröffnet das Festival "Radikal jung". Bis 5. Mai werden wieder die neusten und aufregendsten Theaterarbeiten des deutschen und europäischen Regienachwuchs gezeigt. Festivalleiter Jens Hillje im Interview über das diesjährige Festival.

Interview: Tobias Obermeier

Womit beschäftigt sich das junge Theater derzeit?
Eine generelle Entwicklung im Vergleich zum letzten Jahr ist der Versuch, sich größeren Stoffen und Zusammenhängen zu widmen. Während in der Pandemie eine Auseinandersetzung mit spezifischen individuellen Erfahrungen im Zentrum stand, weitet sich der Blick jetzt wieder auf die Gesamtgesellschaft und wie man mit der Erfahrung umgeht, dass wir in der Pandemie nicht alle gleich waren. Dass wir nach wie vor in einer sehr ungerechten Gesellschaft leben. Diese Wahrnehmung zeigt sich in vielen Inszenierungen.

Wie äußert sich das konkret im Festivalprogramm?
Das lässt sich am besten anhand der Eröffnung verdeutlichen. Auf der großen Bühne zeigen wir das Stück "Zwiegespräch" von Peter Handke in der Regie von Rieke Süßkow. Eine junge Regisseurin inszeniert einen alternden Mann. Das ist eine ziemlich radikale Auseinandersetzung zwischen der jungen und der alten Generation. Konterkariert wird das von "Radical Hope – Eye To Eye". Eine junge, belgische Arbeit von Stef Van Looveren, die körperlich, sinnlich und ästhetisch eine Überwältigung ist. Es geht kurzgesagt um den Körper und seine Freiheiten und Möglichkeiten. Die dritte Eröffnungsinszenierung ist "Sistas!", eine Koproduktion des Kollektivs Glossy Pain und der Volksbühne Berlin, die Anton Tschechows "Drei Schwestern" neu interpretiert. Denn darin setzen sich drei Schwarze Deutsche mit ihren Erfahrungen auseinander, einen GI-Vater zu haben und täglich mit Rassismus konfrontiert zu sein. Die unterschiedlichen Positionen werden dabei sehr kontrovers auf der Bühne verhandelt. Aber auch mit großem Witz, denn es handelt sich ja um eine Komödie von Tschechow.

Bei Radikal jung geht es darum, unsere Wahrnehmung von Realität an die tatsächliche Wirklichkeit anzupassen. Denn wir täuschen uns sehr oft in unserer Wahrnehmung von Gesellschaft, Kultur und Politik.
Jens Hillje

Gibt es denn ein Theater, das nicht politisch ist?
Alles ist politisch. Die Frage lautet nur: Was ist politisch relevant? Politisch zu sein ist noch kein Wert an sich. Man muss schon immer hinzufügen, in welcher Perspektive man das ganze betrachtet. Bei Radikal jung geht es darum, unsere Wahrnehmung von Realität zu bearbeiten und zu erweitern und diese Wahrnehmung an die tatsächliche Wirklichkeit anzupassen. Denn wir täuschen uns sehr oft in unserer Wahrnehmung von Gesellschaft, Kultur und Politik. Da steckt immer der Moment von Aufklärung dahinter. Man kann auch reaktionär sein, wenn man politisches Theater macht. Es sollte also immer Theater im Sinne der Aufklärung sein, im Sinne einer Bewusstwerdung darüber, wo wir noch nicht so frei und gleich sind, wie wir gerne wären.

Inwiefern spiegelt sich der Krieg in der Ukraine im Programm wieder?
Letztes Jahr eröffnete eine ukrainische Produktion das Festival und man geht damit schon die Verpflichtung ein, den Krieg im Theater nicht nur als Eintagsfliege aufzugreifen, sondern weiter hinzuschauen. Deswegen haben wir spezifisch nach einer Inszenierung gesucht, mit der wir die Auseinandersetzung mit diesem Thema fortführen können. Wir sind sehr froh um "Odyssee" von Stas Zhyrkov, weil darin die Realität der Flucht nach Deutschland sehr stark reflektiert wird. Es stellt den Krieg in einen größeren Kontext, weil mit der Odyssee als literarische Folie der Aspekt dazukommt, dass es sich um das Topos des nicht enden wollenden trojanischen Krieges handelt. Penelope, die Hauptfigur, befindet sich in einer besonderen Situation. In der Inszenierung zeigt sich das Schicksal der Penelope anhand der ukrainischen Frauen und ihrer Kinder, die im Exil sind und warten, ohne die Männer an ihrer Seite, die im Krieg sind.

Die großen, klassischen Stoffe verlieren auch nicht an Relevanz, weil sie immer ein universelles Thema behandeln.
Es wird eine spezifische Erfahrung in den Kontext einer universellen, überzeitlichen Erfahrung gestellt. Dadurch wird es zu einem gemeinsamen Problem und nicht nur zu einem einer einzelnen Gruppe.

Und zeigt sich darin nicht vor allem, wie nahe das Theater den gesellschaftspolitischen Entwicklungen sein kann?
Ein Beispiel dafür wäre die sehr interessante und ästhetisch anspruchsvolle Produktion "Woyzeck" aus Magdeburg, die eine bestimmte ostdeutsche Erfahrung mit sozialer Ungleichheit reflektiert und mit einer Videospiel-Ästhetik verbindet. Woyzeck wird Spielrunde für Spielrunde losgeschickt, um sein soziales Schicksal, seine soziale Situation zu verbessern. Aber es gelingt ihm nicht. Er verliert immer, egal wie er spielt.

Welchen Anspruch hat Radikal jung an sein Publikum?
Radikal jung ist zusammen mit dem Volkstheater sehr darauf ausgerichtet, sein Publikum mit den gegenwärtigen Realitäten neugierig zu machen und es in eine Konfrontation mit der Kunst und der Wirklichkeit zu bringen. Da wäre zum Beispiel "Gondelgeschichten" zu nennen. Ein dokumentarisches Theaterprojekt vom Institut für Medien, Politik & Theater am Tiroler Landestheater, das sich mit dem Ischgl-Skandal auseinandersetzt und eine Wirklichkeit verhandelt, die sehr nahe an dem Münchner Publikum ist. Also die Alpen, der Wintersport und das Skifahren als ein wichtiger Teil der eigenen kulturellen Identität. Die Inszenierung hinterfragt die politischen Realitäten radikal und mit sehr viel bösem Humor und weitet das zu einer Reflexion über die Lebens- und Arbeitswelten aus, die gerade untergehen. Plötzlich handelt das Stück von der Klimakatastrophe und den Skigebieten als Orte, die es bald nicht mehr geben wird. Und von den Skandalen, die es bald nicht mehr geben wird, weil man nicht mehr Skifahren kann. Das ist sozusagen eine Form von einem neuen und anderem Volkstheater, das sehr nahe an den Menschen ist und innerhalb deren Lebensrealität recherchiert.

Welche Arbeit fordert das Publikum noch heraus?
In der "Dan Daw Show" geht es um Menschen mit und ohne Behinderung, also mit verschiedenen Möglichkeiten und Fähigkeiten. Und es ist die Begegnung von zwei Männern auf der Bühne. Eigentlich eine Choreographie, in der es zu einer Situation von Herr und Knecht, von Herrschaft und Ausübung kommt. Es entsteht auf der Bühne ein komplexes und kompliziertes Verhältnis, das die Zuschauer*innen in Momente von echtem Dilemma bringt. Kann man das wirklich machen? Will ich das überhaupt sehen? Darf ich das sehen? Für das Publikum ist es ein sehr herausfordernder Abend. Aber die Inszenierung hat das schönste Ende des ganzen Festivals. Da lohnt sich wirklich die Reise, die man gemeinsam mit der Show als Zuschauer*in gemacht hat. Man geht mit einer Erfahrung aus diesem Theaterabend, die man so nirgendwo anders hätte machen können.

Ein Theater der Konfrontation und ein Theater der Reise also, das auch mit einer Katharsis für das Publikum endet?
Das ist ein schöner Gedanke. Es sind viele sehr spannende, anspruchsvolle, aber auch äußerst unterhaltsame Reisen durch neue, imaginäre Welten dabei, die uns helfen, die neuen Wirklichkeiten besser zu verstehen.