"Sie war eine Stimme, die wir heute ein wenig vermissen"

Berühmt wurde die Autorin Valerie Solanas 1968, als sie Andy Warhol anschoss. Ihr Werk ist weniger bekannt. Nona Demey Gallagher und Lieselot Siddiki wollen das ändern.

Interview: Katharina Mühl

Valerie Solanas soll gesagt haben: "Lies meinen Text und du weißt, wer ich bin." – Würdet ihr sagen, dass die Leute genauso wissen, wer ihr seid, nachdem sie das Theaterstück gesehen haben? Oder warum habt ihr euch dazu entschieden, dieses Stück zu inszenieren?
Nona: Solanas denkt ziemlich progressiv. Sie ist politisch sehr inkorrekt, was erstmal ungewöhnlich war – aber uns in der Arbeit sehr geholfen hat, weil es sofort ein eigenes Licht und Leben mit sich gebracht hat. Ich denke, dass sie in ihren Texten die Grenzen der Geschlechterdynamik und der Machtstrukturen verschiebt. Das ist genau das, wonach ich persönlich in meiner Arbeit suche: Welche gesellschaftlichen Konstellationen – wie zum Beispiel Geschlechterdynamiken – gibt es? Und wie funktionieren sie? Was ist heute noch aktuell? "Up your Ass" ist ein Text aus den 1960er Jahren, der aber noch immer äußerst relevant ist.

Solanas lebte in den 1950er Jahren in den USA und hat den Text in den 1960er Jahren geschrieben. Und eigentlich könnten alle ihre Figuren mit ein paar Anpassungen genauso in der heutigen Zeit leben.
Lieselot Siddiki
Nona Demey Gallagher & Lieselot Siddiki (c) Helena Verheye

Habt ihr vielleicht ein Beispiel dafür, warum der Text auch heute noch so wichtig ist?
Nona: Die Art und Weise, wie Solanas mit den Geschlechtern spielt, vor allem mit dem männlichen Protagonisten: Das ist eine sehr narzisstische, satirische Art von Mann.

Lieselot: Es ist eine Persiflage. Aber es ist auch ziemlich traurig: Solanas lebte in den 1950er Jahren in den USA und hat den Text in den 1960er Jahren geschrieben. Und eigentlich könnten alle ihre Figuren mit ein paar Anpassungen genauso in der heutigen Zeit leben. Auch die Dynamiken sind ähnlich: Die Figuren sprechen einmal über Geschehnisse zwischen einem männlichen Chef und einer weiblichen Angestellten am Arbeitsplatz oder sie scherzen darüber, dass es nie eine weibliche Präsidentin gab und geben wird.

Solanas war eine Sexarbeiterin, aber sie hatte auch ein Psychologiestudium absolviert – all diese Ambiguitäten machten sie zu dem, was sie war.
Lieselot Siddiki
Up your Ass (c) Helena Verheye

Was macht Solanas Stimme so besonders und interessant?
Lieselot: Ich glaube, Solanas hat einen sehr rabiaten Sinn für Humor. Wir haben viel gelacht, als wir das Stück inszeniert haben, aber manchmal wurde es auch sehr hart und uns blieb das Lachen im Hals stecken, weil es oft einfach nicht lustig ist. Wenn man in das Leben von Valerie Solanas eintaucht, ist es auch nicht wirklich zum Lachen. Sie selbst war zwar lustig, aber ihr Leben war eigentlich ziemlich tragisch.

Nona: Vielleicht sind ihre Texte auch so interessant, weil sie eine weibliche Autorin ist, die Probleme mit Geschlechtern thematisiert, die noch immer existieren. Zum Beispiel wie das Männliche und das Weibliche in Arbeitsstrukturen wahrgenommen und eingeordnet werden, auch im Theater oder im Humor. Ich denke, dass es auch im Feld Regie immer noch nicht wahnsinnig viele Regisseurinnen gibt. Das Gleiche gilt für Chefinnen. Da berühren wir uns gegenseitig, weil wir das, was Solanas zu sagen versucht, in unserem Alltag auch sehen und fühlen. 

Lieselot: Ich glaube, sie hatte als Person etwas sehr Radikales an sich. Sie war eine Stimme, die wir heute ein wenig vermissen: diese krassen Aussagen, die sie zu machen wagte, und diese Brutalität. Gleichzeitig war sie eine sehr zweideutige Person, in vielerlei Hinsicht wie ein wandelndes Paradoxon. Sie war eine Sexarbeiterin, aber sie hatte auch ein Psychologiestudium absolviert – all diese Ambiguitäten machten sie zu dem, was sie war.

Ich habe gelesen, dass ihr mit ihrer Familie in Kontakt getreten seid, um das Stück inszenieren zu dürfen. Wie habt ihr die Erlaubnis bekommen?
Lieselot: Wir haben lange gesucht, weil es nur eine lebende Verwandte gibt: die Tochter ihrer Schwester. Als wir ihren Namen herausgefunden haben, haben wir jede Person, die so heißt, im Internet kontaktiert. Als wir die richtige gefunden hatten, haben wir ihr einen langen Brief geschrieben. Darin haben wir beschrieben, warum wir diesen Text so großartig finden, warum wir Solanas so sehr mögen und dass wir sie wirklich für eine der lustigsten Autorinnen halten, die wir je gelesen haben. Und ich glaube, das hat sie überzeugt, denn sie wurde bestimmt vorher auch schon kontaktiert, aber die Leute waren vermutlich eher angetrieben von Sensationslust. Sie ist auch zur Premiere nach Gent gekommen. Das war sehr, sehr besonders. Es hat sich ein bisschen so angefühlt, als wäre Valerie da gewesen.

Up your Ass (c) Helena Verheye

Valerie Solanas hat jeden und jedes Geschlecht kritisiert. Sie hat sogar im S.C.U.M.-Manifest geschrieben, dass wir das Männliche auslöschen sollten. Was meint ihr dazu? Könnte das eine Lösung sein?
Lieselot: Nein, ja, es wäre eine Lösung, aber es wäre eine ziemlich langweilige Welt.

Nona: Ist das der richtige Weg? Nein, nein, das ist nicht der Weg. Es ist eine Satire. Sie spielt einfach mit dieser Idee. Und es ist auf einer theoretischen Ebene interessant, was das mit der Welt anstellen würde.

Lieselot: Ich denke, es geht auch gegen die Werte oder die Verhaltensweisen des Patriarchats. Sie wettert auch gegen Frauen, die dieses männerorientierte System mittragen, oder gegen den Kapitalismus. Er ist fast auch eine Metapher für böse Männer oder für das, was ihrer Meinung nach in der Welt falsch läuft. Aber ja, für den Moment können Männer ruhig noch weiter existieren.

Trailer "Up your Ass"

Mehr zur Autorin

Katharina Mühl (c) Moritz Lotze

Katharina Mühl liebt das Theater, wenn man vollständig in die Geschichten eintaucht und für einen Augenblick vergisst, dass man doch nur auf roten Samtsesseln einem Spiel zuschaut. Sie hat nach jahrelanger Arbeit an den Theaterbühnen selbst nun beschlossen, die Seiten zu wechseln und lieber als Kulturjournalistin Geschichten aus der Kunst zu erzählen. Diagnose: Süchtig nach guten Geschichten, geht deswegen nie ohne Buch oder Podcast außer Haus.