Flugstunden auf der Bühne

Im neuen Haus können mithilfe eines ausgeklügelten Seilsystems erstmals Flüge auf der Bühne inszeniert werden. Der Regisseur Nikolas Darnstädt zeigt in "Johanna von Orleans", was mit der Technik alles möglich ist. Ein Probenbesuch.

Artikel: Tobias Obermeier

Ist die Taste gedrückt, geht alles ganz schnell. Eben noch standen die sechs Schauspieler eng aneinander im Kreis. Die Körper leicht gebückt. Die Hände in Angriffsstellung, als hätten sie ein Schwert in der Hand. Mittendrin Schauspielerin Nina Steils. Ebenfalls leicht gebückt. Dann kommt das Signal: "Bereit? 3-2-1-Go". Techniker Korbinian Wegmann drückt die Taste auf seinem Steuerungspult und schon fliegen die sechs Männer wie von einem kräftigen Windstoß getroffen nach hinten und landen rücklings auf dem Boden. Währenddessen schwebt Nina Steils mit ausgestreckten Armen mehrere Meter in die Höhe.

"Ihr müsst beim Zurückfallen zehn Prozent schneller sein. Und es kommt darauf an, dass ihr euch über die Seite, mit Arme und Hüfte, fallen lässt. So könnt ihr euch flach über den Boden wegschieben. Gleich nochmal!" Marc Sieger gibt der Truppe kurze Anweisungen, bevor alles auf Anfang geht. Auf der Bühne 1 des Münchner Volkstheaters wird gerade "Johanna von Orleans" in der Regie von Nikolas Darnstädt geprobt. Das Besondere: Die Schauspieler*innen fliegen in der Inszenierung. Dafür sind sie über ein Geschirr mit Seilen verbunden, die im Schnürboden hoch oben im Bühnenturm befestigt sind. Deswegen wurde auch Marc Sieger zusammen mit Vanessa Sweekhorst für die Probe engagiert. Sieger arbeitet als Stuntkoordinator und Sweekhorst als Luftakrobatin. Beide bringen dem Team samt Ensemble wichtige Tricks und Kniffe beim Stunt Rigging bei. So wird die ausgeklügelte Seiltechnik im Fachjargon bezeichnet.

Eine Technik, die es in der Form im alten Volkstheater gar nicht gab. Um sie im neuen Haus auszureizen, hat sich der Regisseur Nikolas Darnstädt einiges einfallen lassen. Seine Inszenierung nach Friedrich Schiller spielt mit einer Vielzahl von Fantasy-Elementen. Der Handlungsort ist nicht Frankreich, sondern eine Toteninsel, auf der seit tausend Jahren ein Krieg zwischen zwei verfeindeten Großkonzernen herrscht. Und Johanna von Orleans wird nicht wie bei Schiller für eine Hexe gehalten, sie ist eine.

Man kann es sich als eine Mischung aus einem religiösen Gemälde und Matrix vorstellen.
Regisseur Nikolas Darnstädt

In der Szene, die gerade geprobt wird, taucht Johanna erstmals auf dem Schlachtfeld auf. "Sie erscheint aus dem Himmel und bricht wie ein Engel der Vergeltung in die Menge hinein und löst eine Druckwelle aus, die alle wegsprengt und die Schlacht entscheidet. Man kann es sich als eine Mischung aus einem religiösen Gemälde und Matrix vorstellen", so Darnstädt. Um das dementsprechend in Szene zu setzen, muss sich das Ensemble erstmal mit der Technik vertraut machen.

Nach jedem Durchgang funktionieren die Abläufe besser. Es sind die kleinen Details, die den Unterschied ausmachen. Die Seile müssen genau im richtigen Tempo hochgefahren werden, damit die Flugbewegung stimmt. Mithilfe einer Software, die mit der Seilmechanik verbunden ist, kann die Geschwindigkeit präzise justiert werden. Hinzu kommt das richtige Timing. Marc Sieger weiß aus dem Stegreif, wann der Einsatz für die sechs Schauspieler kommen muss: "Wenn Nina 30 Zentimeter über dem Boden ist, fliegen die anderen nach hinten weg." Eigentlich arbeitet Sieger hauptsächlich für Filmproduktionen. Von Autocrashs über Doubeln bis hin zu Seilflügen ist alles dabei. Dass er an ein Theater geholt wird, kommt eher selten vor.

Neben der exakten Programmierung der Software ist vor allem die Körperbeherrschung entscheidend.

Die Punktzüge im neuen Haus sind im Grunde genommen auch nicht primär für fliegende Schauspieler*innen konzipiert, sondern zum Heben und Senken von Dekorationen, einen schnellen Umbau des Bühnenbilds und die Anbringung von Beleuchtungstechnik. Da aber die Mechanik, die Seilzüge und vor allem das Softwaresystem der aktuellste Stand der Technik sind, ist vieles möglich. "Wir probieren gerade sehr viel aus. Schrägzüge, Pendel- oder Kreisbewegungen, das habe ich alles in der Form noch nicht gemacht. Wir wollten es mal ausprobieren und es hat sehr gut funktioniert", so Sieger.

Neben der exakten Programmierung der Software ist vor allem die Körperbeherrschung bei den Schauspieler*innen entscheidend, um die gewünschten Bewegungen zu erzielen. Je öfters geprobt wird, desto einfacher wird es. Das merkt auch Nina Steils nach einigen Durchläufen. Wenn sie in die Höhe gezogen wird, soll sie eine langsame Drehung um die eigene Achse vollziehen. Dafür muss sie beim Verlassen des Bodens genug Schwung aus der eigenen Drehbewegung mitnehmen. Nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel. Mit jedem Versuch wird die Bewegung immer exakter, bis sie sich schließlich genau einmal um sich selbst dreht.

Gegen Ende der Probe übt Vanessa Sweekhorst noch eine weitere Szene mit den beiden Schauspielern Max Poerting und Silas Breiding. Beide laufen im Gleichschritt und im Abstand von zwei Armlängen im Kreis. Als sie von den Seilen nach oben gezogen werden, sorgt ihr eigenes Körpergewicht mittels Zentrifugalkraft dafür, dass die Kreisbewegung fortgeführt wird. Ein Zweikampf, der sich in die Lüfte erhebt. Nikolas Darnstädt ist von den Möglichkeiten begeistert: "Ich habe auf der Bühne noch nie solche Flüge gesehen, wie wir sie hier ausprobieren. Egal in welchem Theater." Das Publikum darf also gespannt sein, was er sich mit seinem Team noch so alles ausgedacht hat.

Die Premiere ist am 14. April 2022.