"Man heult erst, wenn man um die Ecke ist"

Mathias Spaan adaptiert am Volkstheater den Roman "8 1/2 Millionen" von Tom McCarthy. Ein Gespräch über inszenierte Realitäten und die ewige Suche nach Authentizität.

Interviewerin: Johanna Ammon

Mathias Spaan, seit Januar diesen Jahres läuft Ihre Inszenierung "8 1/2 Millionen" nun am Münchner Volkstheater. Woher kam die Idee und der Wunsch, diesen Stoff zu inszenieren?
Das Buch begleitet mich mittlerweile seit ungefähr 10 Jahren. Damals beim ersten Lesen war ich sehr beeindruckt. Auch, weil es extrem viel mit Theater zu tun hat: Was ist echt, was ist nicht echt? Ich fand den theatralen Moment darin so spannend, dass ich es unbedingt auf die Bühne bringen wollte. – Gleichzeitig sind diese verschiedenen Ebenen sehr komplex, sodass ich einen großen Respekt davor hatte, "8 1/2 Millionen" zu inszenieren. Es stand lange auf meiner Liste. Die Frage, wie man einen realen Moment auf der Bühne konstruiert, hat mich total umgetrieben. 

 

Regisseur Mathias Spaan
Wann gibt’s denn noch authentische Momente?

Im Laufe des Abends werden viele Fragen verhandelt, die man sich im alltäglichen Leben selbst immer wieder leise stellt.
Wann ist man echt? Bin ich noch echt? Und wer bin ich überhaupt? Zum Beispiel in Gesprächssituationen oder Interviews reden wir auf eine ganz bestimmte Art. Wir haben irgendwo gelernt, irgendwo gesehen, wie man ein Interview zu führen hat. Im Endeffekt habe ich diese "Technik" irgendwo geklaut und mir abgeschaut. Wann gibt’s denn noch authentische Momente? Das finde ich sehr spannend, denn das begegnet einem ja im Alltag immer wieder.

Der Protagonist versucht, einen Ort aus seiner Erinnerung zu konstruieren, um ihn nochmal betreten zu können. Das verbindet den Inhalt des Stücks mit der Funktion des Theaters, einen Raum schaffen zu wollen, der Menschen in Realitäten eintauchen und eintreten lässt.
Genau. Das ist auch ein bisschen die Gefahr des Stücks. Es passt wahnsinnig gut ins Theater, gleichzeitig muss man die entsprechenden Bilder dafür finden. Bevor das Volkstheater zugestimmt hat, "8 1/2 Millionen" auf den Spielplan zu nehmen, hatte ich es bestimmt sieben oder acht Theatern angeboten, die abgelehnt haben. Als die Zusage vom Volkstheater kam, habe ich mich sehr gefreut. Ich habe mit Leon Frisch, dem Dramaturg, eine Fassung erarbeitet. Wir haben dann erstmal viel Zeit mit Linien und Notizen zu Personen und Zusammenhängen vor einem Flipchart verbracht. Die verschiedenen Ebenen und die Wechsel zwischen ihnen zu entwirren, hat mich grundsätzlich interessiert. Es hat total Spaß gemacht, dieses riesige Konstrukt zu begreifen.

Der Protagonist hat einen Unfall, der sein Leben in ein "Davor" und ein "Danach" teilt. Er muss alles neu lernen. Seine Bewegungen fließen nicht mehr, sind weder makellos noch natürlich. Sie sind angelernt. Das lässt sich gewissermaßen auch aufs Schauspielen übertragen. Was ist dein Anspruch an die Authentizität von Schauspiel? Wie echt soll das Spiel sein?
Ich bin kein Regisseur, der etwas sucht, das exakt der Realität entspricht. Es muss für mich nicht immer super authentisch sein. Bei Übergängen, rhythmischen und musikalischen Fragen bin ich sehr präzise, auch weil "8 1/2 Millionen" von diesen Übergängen lebt. Am wichtigsten ist mir aber, dass es spielerisch bleibt und wir einen lustvollen Prozess haben. Oft vergisst man, dass viele von uns aus dem Hobby kommen. Alle haben mal für sich festgestellt, dass es toll ist, zusammenzukommen und gemeinsam etwas entstehen zu lassen. In der Realität kommt man aber, sobald es professionell wird, auch im Theater in ein System rein, in dem es Erwartungen gibt. Ich versuche immer, das Hobby und die Passion zurückzuholen. Wir sind hier gemeinsam in einer geschützten Atmosphäre. Lasst uns Dinge ausprobieren und ein bisschen vergessen, dass wir jetzt in einem großen Raum sind.

Ich versuche in meinen Arbeiten meistens etwas Universelles zu schaffen.

Die vom Protagonisten inszenierte Wirklichkeit wird immer mehr zu seiner tatsächlichen Realität. Die Grenzen verschwimmen. Man könnte sicherlich Aktualitäts-Bezüge herstellen. Hast du in deinen Arbeiten diesen Anspruch?
Natürlich könnten wir jetzt stundenlang über Social Media oder KI sprechen. Ich finde es aber generell total interessant, dass wir alle immer eine Kopie sind von den Umständen, die uns umgeben. In ganz vielen Interviews kommt die Frage auf, was das Stück mit dem Zeitgeschehen zu tun hat. Das ist bei einigen Arbeiten bestimmt auch spannend oder genau die richtige Frage. Manchmal kann sie eine Inszenierung aber auch kleiner machen. Ich versuche in meinen Arbeiten meistens etwas Universelles zu schaffen. Und diese Suche nach der Authentizität und dem eigenen Sein steckt in jeder noch so kleinen Handlung unseres Alltags.

8 1/2 Millionen © Konrad Fersterer

Der Protagonist ist im Roman ein namenloser Ich-Erzähler. Auch in Ihrer Inszenierung hat er keinen Namen. Das hat ja schon etwas sehr Universelles. Der Versuch, sich und sein Leben zu inszenieren, scheint allgemein gültig und nicht auf eine konkrete Person zugeschnitten.
Absolut. Im Buch werden viele Begebenheiten beschrieben, bei denen man sich ertappt fühlt. Wenn man beispielsweise vom Fahrrad fällt, steht man schnell wieder auf, gibt sich so, als wäre nichts gewesen und heult erst, wenn man um die Ecke ist. Anderes Beispiel: Im Roman bemerkt der Protagonist, dass er etwas vergessen hat. Er will aber nicht sofort wieder umdrehen, weil das für die Leute in seiner Umgebung vollkommen idiotisch aussehen würde. Also bleibt er stehen, tut so, als würde er überlegen, nur um zu motivieren, dass er doch nochmal zurückläuft. Das alles macht er nur für die Menschen um ihn rum. Diese Beschreibungen sind skurril, aber ich kenne diese Momente auch. Das tun vermutlich alle. Und trotzdem meint man, dass nur man selbst so bescheuert ist. Deswegen finde ich "8 1/2 Millionen" toll. Wir funktionieren doch alle ziemlich gleich. Ich glaube, diese Suche nach Authentizität treibt uns alle um.

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Johanna Ammon

Im Moment verbringt Johanna Ammon ihre Zeit mit diversen Praktika in der Münchner Kulturszene, in Theatern und bei Filmfestivals. Für die junge bühne arbeitet sie als Online-Redakteurin.

Das Radikal jung Festival 2023 wird in Kooperation mit der Jungen Bühne unter der Leitung von Anne Fritsch von jungen Autor*innen und Kulturjournalist*innen begleitet! Täglich erscheinen neue Artikel auf unserem Blog. Blickt in Interviews, Vorberichten, Festivaltagebüchern oder Videos hinter die Kulissen des Festivals!