Noam Brusilovsky und Tobias Obermeier im Gespräch im Schmock

"Die Provozierung einer Katastrophe"

Der Regisseur Noam Brusilovsky erzählt im Interview, wie uns das Theater angesichts einer drohenden Klimakatastrophe helfen kann, was Mysterienspiele sind und wie er Hörspiel und Theater in seiner Arbeit zusammen denkt.

Interview: Tobias Obermeier

Noam, wen würdest du auf die Arche Noah mitnehmen?
Ich würde auf jeden Fall meinen Ehemann mitnehmen. Mit ihm kann ich sehr viel Zeit verbringen, ohne dass es mir jemals langweilig wird.

Was können wir heute noch von dieser sehr alten Geschichte lernen?
Man denkt oft, dass die Erzählung von der Arche Noah eine schöne Geschichte ist. Aber es ist eigentlich eine Geschichte über eine Katastrophe. Gott ist unzufrieden mit der Schöpfung und entscheidet sich, die Menschheit fast komplett auszulöschen. Es geht also um einen riesigen Genozid. Und es geht tatsächlich um die Ruinen einer Welt. Ich weiß nicht, ob es eine Geschichte ist, von der wir was lernen müssen. Wir sollten vielmehr fragen, was wir zu verlieren haben.

Die Erzählung erklärt auch nicht, warum Gott mit der Menschheit unzufrieden ist.
Wir haben einen Gott, der mürrisch ist. Der mit dem, was er auf die Welt gebracht hat, unglücklich ist. Und er entscheidet sich aus Zorn, einen Reset zu machen. Es geht nicht nur darum, was wir machen sollen, damit Gott uns nicht wieder umbringt. Sondern auch um die Frage, wie wir miteinander umgehen müssen, wenn sich uns die Katastrophe nähert.

Es ist auch eine Würdigung aller Menschen, die im Haus arbeiten.

Es geht also nicht mehr darum, die Katastrophe abzuwenden, sondern mit ihr umzugehen?
Auf jeden Fall! Oder teilweise auch darum, die Katastrophe absichtlich zu provozieren, um zu sehen, was passiert, wenn sie da ist. Und das machen wir das ganze Stück lang. Es ist die Provozierung einer Katastrophe. Ein bewusstes Spiel mit dem Feuer.

Was erwartet das Publikum genau?
Es gibt mehrere Bühnen und das Publikum bleibt in Bewegung. Das Publikum bewegt sich im Raum von einer Station zur nächsten. Das kommt aus der Tradition des Mittelaltertheaters. Man sagt, dass es seit dem römischen Theater ein halbes Jahrtausend lang kein Theater mehr gab. Erst im Mittelalter entstand zunächst in der Kirche wieder ein Theater, das dann den Weg auf den Markplatz fand. Und dort bewegte sich das Publikum wie bei einem Art Happening von einer Bühne zur anderen.

Deine Inszenierung wird als Mysterienspiel bezeichnet. Was hat es damit auf sich?
So werden die Stücke genannt, die Geschichten aus dem alten oder neuen Testament nachspielen. Hier gibt es immer zwei Bühnen, die eine repräsentiert die Hölle, die andere das Paradies. Und das war eine Inspiration für den Raum, den wir aufgebaut haben. In unserem Mysterienspiel machen wir ganz klar, dass es um die Leute hier im Theater geht. Sie spielen keine Figuren, sie treten in ihren Funktionen als Schauspieler*innen auf.

Das Ensemble und das Team des Theaters sind Teil der Inszenierung?
Genau! Es ist auch eine Würdigung aller Menschen, die im Haus arbeiten. Dass wir die Technik des Theaters brauchen, um eine Fantasie im Raum zu erschaffen.

Habt ihr euch an einer bereits vorhandenen Stückfassung bedient?
Die Texte habe ich in Zusammenarbeit mit dem Ensemble und mit den beiden Dramaturginnen Lotta Beckers und Rose Reiter geschrieben. Es sind essayistische Reflexionen über die Verbindungen zwischen Theater und der Arche. Das interessante ist, das die Texte nicht live auf der Bühne gesprochen werden. Es wird kaum live gesprochen. Sie werden vom Band abgespielt, wie ein Art Hörspiel, in dem man sich bewegt. Und währenddessen entstehen Bilder und Choreographien auf der Bühne. Es ist eine akustisch-visuelle Inszenierung und fällt auf keinen Fall in die Kategorie Sprechtheater.

Worauf kommt es in der Inszenierung an?
Für uns war es wichtig, einen Reflexionsraum aufzubauen, in dem wir die letzte Reise der Menschheit und gleichzeitig eine Erinnerung an die alte Welt simulieren, die wir gerade hinterlassen. Uns war es sehr wichtig, die Frage zu stellen, ob ein Theaterraum allgemein und ganz spezifisch dieses neue Gebäude des Münchner Volkstheaters, das von außen schon danach aussieht, eine Arche werden kann. Können wir hier die Rettung finden? Ich habe vor kurzem in Klagenfurt gearbeitet und vor dem Theater gab es ein Café mit einer wunderbaren Wirtin, die eine große Opernliebhaberin ist. Da lief immer Opernmusik. Zwischen den Proben habe ich öfters mit ihr gesprochen. Sie meinte zu mir, die Musik wird uns retten. Egal was passiert, die Musik wird immer da sein. Aber ich weiß nicht, ob das Theater immer da sein wird. Wir haben jetzt von 2020 bis 2021 mehrere Monate erlebt, wo es kein Theater gab. Ich habe Angst, dass Menschen tatsächlich vergessen, dass es diesen Raum gibt.

Man braucht Sachen, an die man sich festhalten kann.

Du machst auch viele Hörspiele und hast bereits zweimal den Deutschen Hörspielpreis der ARD gewonnen. Was kann das Hörspiel, was das Theater nicht kann?
Ich begreife meine Rolle im Theater und im Hörspiel ganz anders. Im Theater bin ich ein Gastgeber und lade die Leute zu mir ein. Sie sollen eine gute Zeit bei mir haben. Im Hörspiel versuche ich, das Gegenteil zu tun. Ich dringe in die Privatsphäre ein und versuche die Störung in einem Sendeplan eines Senders zu sein, in dem alles normalerweise sehr strukturiert ist. Das Hörspiel ist der Slot im Sendeprogramm, der wild ist. Man macht eine Stunde lang Chaos und ist wieder weg. Es sind zwei sehr unterschiedliche Rollen.

Weil man bei einem Hörspiel mit den Zuhörer*innen auch nicht in eine Interaktion kommt?
Ja, aber dafür kommt man den Leuten sehr nahe. Es ist ein wahnsinnig intimes Medium. Man braucht kein Publikum. Viele Leute hören mittlerweile mit Kopfhörern. Man kann sehr leise und sehr subtil mit Geräuschen arbeiten und mit der Wahrnehmung des Menschen. Und im Theater kann man auch subtil arbeiten, aber es geht immer um die Menge, den Raum und das Zusammensein. Um die Menschenversammlung, die uns nach Covid wieder sehr wichtig ist. Das gemeinsame Ritual.

Ist das Ritual ein Mittel, um uns zu retten?
Man braucht Sachen, an die man sich festhalten kann. Im Judentum finde ich es sehr schön, dass eine Beerdigung etwas sehr gemeinschaftliches ist. Es gibt eine Liturgie, die gesungen werden muss. In einem Moment, in dem allen die Worte fehlen, ist es ganz gut, dass es einen Text und ein Ritual gibt, an dem man sich festhalten kann. Was soll man in solchen Momenten machen, wenn man sonst nichts zu sagen hat?

Schafft es die Menschheit, mit der drohenden Klimakatastrophe umzugehen?
Nein, der Mensch macht immer dieselben Fehler und zieht keine Konsequenzen daraus.

Inwiefern denkst du, dass uns das Theater aber dabei helfen kann?
Das Theater ist ein Ort, in dem wir andere Realitäten erproben dürfen. Es ist zunächst ein Ort im Hier und Jetzt. Gleichzeitig sind wir dort aber auch in der Lage, uns etwas anderes vorzustellen. Und diese Vorstellung in diesem Moment ist dann auch existent. Sie ist nicht fake. Sie ist tatsächlich da. Und indem man das macht, zeigt man immer wieder, dass es eine Möglichkeit gibt, anders zu leben. Das Theater ist eine Probe. Wir erproben andere Realitäten.

"Arche Nova" von Noam Brusilovsky feiert am 19. Juni am Münchner Volkstheater seine Uraufführung.