"Humor ist ein gutes Mittel, um Schmerzhaftes zu verarbeiten."

Die Regisseurin Sapir Heller hat das Stück "Der Besuch der alten Dame" um zwei Generationen versetzt. Ein Gespräch über vererbte Traumata, das große Schweigen in Familien und warum es trotzdem etwas zu lachen geben muss.

Interview: Julia Rothhaas

"Der Besuch der alten Dame" von Friedrich Dürrenmatt gilt als Dauerbrenner auf deutschen Bühnen. Was hat dich an diesem Stück gereizt?
Sapir Heller: Viele kennen diese Geschichte noch aus der Schule, deswegen wollte ich es jetzt mal etwas weiterdrehen. Anstelle von Claire Zachanassian, der alten Dame von Dürrenmatt, findet unsere Version zwei Generationen später statt. Bei uns kommt ihre Enkelin nach Güllen, der Kleinstadt, in der ihre Oma groß geworden ist und die ihr nur Unglück und Ungerechtigkeit beschert hat. Die Enkelin hat all das zwar nicht direkt erlebt, aber die alten Traumata kleben trotzdem an ihr. In Güllen trifft sie dann auf die Stadtbewohner, die ihre Geschichte beziehungsweise die ihrer Vorfahren wiederum nie aufgearbeitet haben.

Wie erlebt die Enkelin Güllen?
Eigentlich kommt sie nur in die Heimatstadt ihrer Großmutter, um als Sängerin aufzutreten. Dabei erfährt sie nach und nach Dinge, die sie nicht wusste, auch, weil ihre Oma nicht alles erzählt hat. Doch jetzt möchte sie sich endlich damit auseinandersetzen, sie stößt allerdings überall auf taube Ohren und auf ein großes Schweigen. Also testet sie aus, ob die heutigen Bewohner der Stadt wirklich so anders sind als sie behaupten.

Sapir Heller (c) Stefan Loeber
Wenn ich mich nicht mit der Vergangenheit beschäftige, kann ich auch keine Verantwortung für das Jetzt übernehmen.

Und wie verhalten sich die Bewohner?
Sie reden ständig darüber, wie schön früher alles war, die eigentliche Wahrheit kehren sie lieber unter den Teppich. Sie verhalten sich nach dem Motto: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen". Ich fand es spannend, mir diese beiden gegensätzlichen Seiten anzugucken. In dem Sinne ist es auch eine Geschichte über die dritte Generation, meine Generation, hier und jetzt, in Deutschland.

Sapir Heller bei den Proben (c) Katharina Öttl

Was genau meinst du?
Ich komme aus Israel und werde hier ganz oft als Jüdin angesprochen. Ich werde wirklich darauf reduziert. Was absurd ist, wenn man das mal andersherum denkt. Ich spreche ja auch niemanden nur als Katholiken an. Auf Partys werde ich von Wildfremden gefragt, ob meine Großeltern den Holocaust überlebt haben, ständig singen mir Leute "Shalom Chaverim" vor. Das Lied habe ich das erste Mal in Deutschland gehört, in Israel kennt das niemand! Besonders krass ist es seit den Terroranschlägen vom 7. Oktober geworden, da soll ich ständig Position zur aktuellen politischen Lage beziehen. Und von Theatern werden mir teilweise Stoffe angeboten, bei denen ich mich frage: Finden die interessant, dass ich mich als Künstlerin damit auseinandersetze? Oder wollen sie, dass die Jüdin jetzt Probleme für sie klärt, die nicht ihre eigenen sind?

Ihr seid nicht schuld an dem, was war, aber verantwortlich dafür, dass es nicht mehr geschieht.
Max Mannheimer

Weil sich die Deutschen im Grunde weiterhin vor einer Auseinandersetzung mit dem Holocaust scheuen?
In der Schule wird viel über das Thema gesprochen, so viel, dass manche ab einem gewissen Punkt gar keine Lust mehr haben, irgendetwas davon zu hören. Aber wie viele Menschen in Deutschland kennen tatsächlich ihre eigene Familiengeschichte? Wie sich der Großvater, die Großmutter zu Zeiten des Nationalsozialismus verhalten hat? Es gibt dieses berühmte Zitat von Max Mannheimer: "Ihr seid nicht schuld an dem, was war, aber verantwortlich dafür, dass es nicht mehr geschieht." Man kann die heutige Gesellschaft eben nicht getrennt von der Vergangenheit sehen. Doch wenn ich mich nicht mit der Vergangenheit beschäftige, kann ich auch keine Verantwortung für das Jetzt übernehmen.

Sapir Heller (c) Katharina Öttl

Welche Rolle spielt das große Schweigen bei den Proben?
Das gesamte Team geht in diese Form der Auseinandersetzung richtig hinein, das finde ich ganz toll. Manche bringen alte Familienalben mit und führen das erste Mal Gespräche mit ihren Großeltern über deren Vergangenheit. Das ist wichtig, denn man versteht sich, aber auch die eigenen Vorfahren besser, wenn man zumindest einmal versucht, sich wirklich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Das Stück von Dürrenmatt ist eine tragische Komödie. Was würdest du über deine Inszenierung sagen: eher lustig oder eher düster?
Es gibt dieses Zitat von George Tabori: "In jedem Witz verbirgt sich eine Katastrophe". Genau das machen wir in diesem Stück: Es ist sehr lustig und gleichzeitig bitterernst. Humor ist schließlich ein gutes Mittel, um Schmerzhaftes zu verarbeiten.

"Der Besuch der alten Dame" von Friedrich Dürrenmatt in der Regie von Sapir Heller ist ab dem 13. April auf der Bühne 1 im Münchner Volkstheater zu sehen.