Jonathan Müller und Nina Steils betrachten einen Haufen Panzersperren.

Krieg frisst Seele

Ran Chai Bar-zvi setzt sich in der Inszenierung von Kristófs "Das große Heft" eindrucksstark mit Folgen und Traumata einer vom Krieg überschatteten Kindheit auseinander.

Text: Katharina Mühl

Als es im Saal dunkel wird, geht auf der Bühne ein Licht an. Der Schauspieler Jonathan Müller steht im Scheinwerferkegel an der Bühnenkante und hält sich, vom grellen Licht geblendet, schützend die Hand vor die Augen. Direkt hinter ihm eine schwarze Wand, keine Möglichkeit zu fliehen. Müller spielt Claus T., der verhaftet wurde, weil er keinen gültigen Aufenthaltsstatus vorweisen konnte. Nun erklärt er hilflos, warum er sich trotzdem in der Stadt K. befindet: Er ist auf der Suche nach seinem Zwillingsbruder.

Der Regisseur Ran Chai Bar-zvi erweitert die Handlung des Romans "Das große Heft" von Ágota Kristóf am Münchner Volkstheater inhaltlich um die Fortsetzungen "Der Beweis" und "Die dritte Lüge": Zu den Kindheitsschilderungen aus dem ersten Teil der Trilogie kommt die erwachsene Perspektive von Claus. Der Regisseur nutzt die Momente im Gefängnis als Rahmenhandlung.

Das große Heft (c) Gabriela Neeb
Die Genialität des Abends liegt in der Nüchternheit, mit der die Schauspieler*innen die erlebte Grausamkeit nacherzählen.

"Kein Buch, auch wenn es noch so traurig ist, kann so traurig sein wie ein Leben", sagt er zu Beginn des Stücks. Als sich die schwarze Wand hebt, taucht Claus T. ein in seine Vergangenheit. Das insgesamt fünfköpfige Ensemble spielt in wechselnden Rollen nach, wie die Zwillingsbrüder Claus und Lucas während des Krieges zu ihrer Großmutter aufs Land geschickt werden. Wobei "nachspielen" falsch verstanden werden kann: Die Genialität des Abends liegt in der Nüchternheit, mit der die Schauspieler*innen die erlebte Grausamkeit nacherzählen. Als die Mutter der Brüder vor den Augen der Kinder stirbt, können diese ihren Leichnam mit der Routine und Distanz eines Gerichtsmediziners beschreiben: "Die Eingeweide quellen ihr aus dem Bauch. Der Kopf hängt in dem Loch, das die Granate gerissen hat." Auf diese Weise wirken innere und äußere Verletzungen viel stärker, als wenn sie mit Theaterblut und Tränen szenisch nachgestellt würden. Die Protagonisten sind Kinder, für die Krieg und Gewalt zum Alltag zählen: "Man muss töten können, wenn es nötig ist", wiederholen sie immer wieder mantraartig, alle Welt würde das tun.

Das große Heft (c) Gabriela Neeb

An einer Stelle wird jedoch mit dieser abstrakten Inszenierung gebrochen. Als Claus von einer Magd vergewaltigt wird, bleibt es nicht bei fiktiver Nacktheit. Es ist ein starkes Bild, als seine Mitspieler*innen ihm vorsichtig seine Unterwäsche wieder anziehen, da er selbst vor Schock wie gelähmt ist. Doch gerade weil Bar-zvi mit diesem Abend beweist, wie lebendig er Situationen nacherzählen kann, ohne sie eins zu eins nachzustellen, wäre die komplette Nacktheit auf einer kleinen Bühne nicht zwingend nötig gewesen.

Selbst als der Krieg zu Ende ist, gibt es für Claus kein Entkommen aus dem Erlebten.

Die Grausamkeit schwebt unvergesslich über jeder Szene aus Claus’ Kindheit und steht im Widerspruch zu der infantilen Unschuld, die das Ensemble glaubhaft mit eingezogenen Köpfen und eingeschüchterten, nach oben gerichteten Blicken ausdrückt. Akustisch erinnern vom Band eingespielte Choräle der Komponistin Evelyn Saylor an die Tragik der Geschehnisse, optisch rostige Panzersperren – die einzige Ausstattung auf der ansonst leeren Bühne. Die Sperren werfen eine stacheldrahtähnliche Form auf die Bühnenrückwand und verdeutlichen somit die Ausweglosigkeit, der Situation zu entfliehen.

Selbst als der Krieg zu Ende ist, gibt es für Claus kein Entkommen aus dem Erlebten. Auch wenn sich nach und nach herauskristallisiert, dass wohl einige seiner Erinnerungen Fiktion sind: Für ihn sind die Traumata und ihre Folgen sehr real. Bar-zvi gelingt mit "Das große Heft" ein mitreißender Theaterabend, dessen eindrucksstarke Bilder auch nach Verlassen des Theatersaals in Erinnerung bleiben.

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Katharina Mühl (c) Moritz Lotze

Katharina Mühl liebt das Theater, wenn man vollständig in die Geschichten eintaucht und für einen Augenblick vergisst, dass man doch nur auf roten Samtsesseln einem Spiel zuschaut. Sie hat nach jahrelanger Arbeit an den Theaterbühnen selbst nun beschlossen, die Seiten zu wechseln und lieber als Kulturjournalistin Geschichten aus der Kunst zu erzählen. Diagnose: Süchtig nach guten Geschichten, geht deswegen nie ohne Buch oder Podcast außer Haus.