"Auch wir können uns Trends nicht entziehen."

Von jungen Regisseur*innen wird wie selbstverständlich ein Gespür für Trends erwartet. Bonn Park und Juli Mahid Carly im Gespräch über Tokenism, die Instrumentalisierung der Jugend und die Dynamik von Sprache.

Interview: Michèle Loetzner

Wie viel Zeit verbringt ihr täglich im Internet?

Bonn Park: Wenig. Mal poste ich ein Foto von Theaterproben oder von einer Katze, die ich niedlich finde. Aber jede Form von Aktivismus lasse ich außen vor. Ich benutze Social Media völlig unpolitisch.

Juli Mahid Carly: Ich hingegen bin viel zu viel im Netz unterwegs, aber so wie bei Bonn ist mein Instagram-Verhalten ebenfalls unpolitisch. Ich würde nie etwas Persönliches posten, das hat mir meine Mutter so eingebläut. Vielleicht will ich ja doch noch einmal Bundeskanzler werden. Aber ich habe einen sehr großen Tiktok-Account, den ich absichtlich anonym betreibe. Dort kann ich gut bestimmte Dynamiken ausprobieren, und finde es spannend, Trends zu beobachten und zu analysieren.

Mir ist auf der Bühne schon eine gewisse Niederschwelligkeit wichtig, damit alle im Publikum teilnehmen können.
Juli Mahid Carly
Damals konnten Leute nackt auf die Bühne scheißen, rumbrüllen und kotzen – nichts davon hätte mehr groß einen Skandal verursacht.
Bonn Park

 

 

 

 

Ihr seid 24 und 34 Jahre alt. Habt ihr manchmal das Gefühl, ihr werdet wegen eures Alters von Theatermenschen instrumentalisiert, damit sie den neusten heißen Scheiß nicht verpassen?

Juli Mahid Carly: Klar frage ich mich immer wieder, ob ich einfach nur eine Rolle im System der Diskurse erfülle. Ob ich etwas mache, weil ich mich wirklich dafür interessiere, oder weil ich mich dafür zu interessieren habe. Aber dazu habe ich noch keine allgemeingültige Antwort gefunden.

Bonn Park: Ich halte es für ein großes Missverständnis zu glauben, das Theater sei befreit von Marktregeln und Neo-Liberalismus. Das stimmt natürlich nicht. Und deshalb werden wir oder zum Beispiel aktuell junge Frauen mit Migrationshintergrund sicher auch als Token genutzt. Schließlich funktioniert das Theater ebenfalls nach dem Trendprinzip. Ein Beispiel: Früher hat es keinen interessiert, wie viele Frauen in einem Stück vorkommen, dafür waren Performances total wichtig. Aktuell haben viele Menschen Angst davor, etwas falsch zu machen, deshalb wird vermehrt auf Herkunft und Geschlecht geachtet. Damit soll die Institution ins 21. Jahrhundert gewaschen werden. Aber das ist kein theaterspezifisches Problem, das betrifft unsere gesamte Marktwirtschaft.

Woran machst du das fest?

Bonn Park: Na ja, alles ist doch miteinander verbunden. Vor ein paar Jahren hingen bei H&M T-Shirts mit dem Aufdruck "Girlpower", heute werden ganze Spielzeiten unter dieses Motto gepackt. Wir Menschen vom Theater halten uns ja gern für schlauer als der Rest. Oder zumindest für schlauer als H&M. Aber das sind wir natürlich nicht. Auch wir können uns Trends nicht entziehen.

 

Vor ein paar Jahren hieß es noch, am Theater könne man mit nichts mehr provozieren. Wie ist das heute?

Bonn Park: Ich glaube, das ist jetzt komplett andersherum. Ich erinnere mich gut an die Debatte. Damals konnten Leute nackt auf die Bühne scheißen, rumbrüllen und kotzen — nichts davon hätte mehr groß einen Skandal verursacht. Eigentlich sagt man ja, je mehr die Zeit voranschreitet, desto weniger kann man provozieren. Heute herrscht allerdings eine ganz andere Sensibilität im Publikum. Es ist viel leichter, ein Stück zu schreiben, das die Leute richtig in Aufruhr bringt. Wenn man auf die rassistische Praxis des "Black Facing" setzt oder Frauen als minderwertig darstellt, folgt mit Sicherheit der großer Aufschrei – und das Ende der Karriere. Mich beunruhigt unsere aktuelle Gegenwart aber eher, als dass sie mich beflügelt. Alles scheint viel zu klar in Gut und Böse eingeteilt zu sein. Ich habe aber das Gefühl, dass 95 Prozent der Menschen dazwischen sitzen und überfordert sind mit all den Ansprüchen an sich und an die Welt.

Juli Mahid Carly: Ja, aber es ist auch gut, dass heute über vieles, was früher wie selbstverständlich im Theater stattgefunden hat, gesprochen und diskutiert wird. Ich finde jedoch, dass es zu wenig Konsequenzen für diskriminierendes Verhalten auf und hinter der Bühne gab und immer noch gibt. Wir haben durch eine breite gesellschaftliche Debatte und Wachsamkeit mehr Möglichkeiten, diese Fälle auch zu benennen. Grundsätzlich finde ich es gut, dass sich jetzt auch Intendantinnen und Intendanten konkrete Gedanken darüber machen müssen, welche Grenzen sie und ihre Künstlerinnen und Künstler überschreiten wollen und können.

Weil sie Angst vor einem Shitstorm haben?

Juli Mahid Carly: Vielleicht auch, aber da muss man sicher unterscheiden. Es gibt ja so kleine Shitstorms, die dann hauptsächlich in einer Bubble stattfinden. Beispiel: Jemand am Theater sieht, dass dort bei Proben indigene Kleidung als Kostüme verwendet wird, und postet das dann auf Social Media. Das kommentieren dann meistens nur Leute aus diesem Kreis, die sich gern selbst gegenseitig bestätigen wollen. Das kann eine wirkliche Debatte im Keim ersticken. Einen Shitstorm aus der rechten Ecke will man dagegen nicht erleben. Der kann richtig gefährlich werden.

Bonn Park: Da gebe ich dir Recht. Ich komme gerade aus Korea, wo ich ein Projekt mit koreanischen Schauspielerinnen und Schauspielern plane. Dort wollte ich, europäisch wie ich bin, auch über Politik und Gesellschaft sprechen. Recht schnell sagte man mir: Bitte lass uns über andere Themen reden. Man sieht sich dort mehr als Gesellschaft denn als einzelnes Individuum. Ich weiß nicht, ob es dort eine Empörung in dieser Form wie hierzulande gäbe.

Die Themen eurer Stücke sind jedenfalls sehr gegenwartsaktuell.

Juli Mahid Carly: Ja, aber das Theater bildet ja auch die Gegenwart ab.

Bonn Park: Und Trends müssen nicht zwangsläufig schlecht sein.

Worum geht es in euren Stücken konkret?

Bonn Park: "Gymnasium" ist eine High School-Oper. Das Setting in diesem Genre ist sehr klar definiert. Es gibt starke Fraktionen wie den Nerd, die Athleten oder die Prom Queen. Diese Umgebung finde ich passend für die Welt, in der wir leben, in der es eben auch sehr, sehr starke Meinungen gibt und weniger Debattenkultur, weniger Austausch und weniger ehrliches Interesse an anderen Menschen, sondern immer nur die Erwartung, Position zu beziehen zu etwas, worin man sich im Zweifelsfall gar nicht auskennt. Fakten und Wissenschaft werden immer weniger wichtig, es zählt nur, die passende Meinung zum richtigen Zeitpunkt zu haben. Dafür werden komplexe Zusammenhänge vereinfacht und natürlich auch Freundschaften geopfert. In meinem Stück gibt es deshalb am Ende keine Prom-Night, sondern eine Hexenverbrennung.

Juli Mahid Carly: Ich setze mich in meinem Stück mit Influencerinnen und Influencern in Dubai auseinander. Wir begleiten sie auf die arabische Halbinsel, wo sie ständig Content produzieren wollen, aber auch immer wieder auf Spuren der korrupten und menschenverachtenden Arbeitswelt vor Ort treffen. Ich stelle die Frage, wie viel Menschen in Kauf nehmen, um ihren persönlichen Konsum zu rechtfertigen. Bestes Beispiel sind ja die Arbeitsbedingungen in Katar für die Fußball WM 2022.

Diese Themen sind sicher schwierig für unterschiedliche Generationen aufzuarbeiten. Das scheitert ja vielleicht schon an der Definition von Begrifflichkeiten, etwa aus der digitalen Welt.

Juli Mahid Carly: Mir ist auf der Bühne schon eine gewisse Niederschwelligkeit wichtig, damit alle im Publikum teilnehmen können. Natürlich kann es passieren, dass Begriffe unbekannt sind, aber dafür hat das Theater ja mehrere Ebenen. Man kann auf verschiedenen sinnlichen Ebenen verdeutlichen, dass es eine Macht-Asymmetrie gibt.

Bonn Park: Auch mir ist es wichtig, Theater für alle zu machen. Trotzdem ist mir natürlich bewusst, wer ins Theater geht. Und vor allem, dass nicht jeder ins Theater geht. Wie weit Wunsch und Wirklichkeit voneinander entfernt liegen, ist auch immer eine Frage, inwieweit man sich auf die Utopie der Idee einlässt, dass Theater für alle sein soll. Deshalb dürfen Begriffe im besten Fall kein Ausschlusskriterium sein, also keine Waffe.

Inwiefern hat das Einfluss auf die Sprache?

Bonn Park: Sprache ist dynamisch, sie verändert sich ständig. Das sieht man ja zum Beispiel am Gendern. In den vergangenen zwanzig Jahren gab es alle möglichen Varianten: das Binnen-I, den Unterstrich, dann den Stern und den Doppelpunkt. Wir haben immer noch keine gute Lösung gefunden, mit der alle happy sind, aber immerhin versuchen wir es. Die Grundidee davon ist ja, dass alle Menschen gleich viel Respekt bekommen sollten. Dafür braucht es keine modernen Thesen, keinen akademischen Hintergrund, und man muss auch nicht links sein, um das zu verstehen. Ich will mit meiner Sprache aber keine Konflikte schaffen, wenn das nicht Teil des Stückes ist.

Juli Mahid Carly: Zum "richtigen" Gendern habe ich keine finale Meinung, aber die Grundidee der Gleichberechtigung ist natürlich selbstverständlich. Ich habe das auch schon in Stücken zum Thema gemacht, indem ich hyper-gegendert habe. Das kann allerdings auch zu Frust beim Publikum führen. Es ist immer gut, sich mit den eigenen Stereotypen konfrontiert zu sehen. Auch dafür geht man schließlich ins Theater.

 

Bonn Park, 1987 in Berlin geboren, wuchs in Berlin, Korea und Paris auf und studierte ab 2008 Slawische Sprachen und Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin und ab 2011 Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Für seine Stücke erhielt Park zahlreiche Auszeichnungen, wie z. B. den Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis für "Traurigkeit & Melancholie oder der aller aller einsamste George aller aller Zeiten" im Jahre 2014. "Drei Milliarden Schwestern" wurde im Oktober 2018 unter seiner Regie in der Volksbühne Berlin uraufgeführt und 2018 mit dem Friedrich-Luft-Preis ausgezeichnet. Seine Highschool-Oper "Gymnasium" wird am 17. Oktober 2021 uraufgeführt.

Juli Mahid Carly wurde 1997 in Kassel geboren und studierte zunächst Germanistik und Geschichte an der Universität Göttingen. 2017 nahm Juli Mahid Carly an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg sein Regiestudium auf. Der dokumentarischer Essay "Weissabgleich" feierte bei den Internationalen Hofer Filmtagen 2019 Premiere und erhielt die Auszeichnung als Film des Jahres im deutschlandweiten Wettbewerb des 17. FiSH Filmfestivals in Rostock. Juli Mahid Carlys Inszenierung "Fata Morgana" ist ab März 2022 zu sehen.